Szczepan, Ich-Erzähler der Rahmenhandlung dieses Romans, fällt unverhofft ein Tagebuch in die Hände. Fortan fragt er sich, wie viel Wahrheit in den Schilderungen steckt und wie groß der Zufall ist, dass ausgerechnet er sie liest, teilt er doch den gleichen Herkunftsort mit deren Schreiber.
Brutal, ungeschönt und derb zeichnet das Tagebuch von Konrad Widuch ein Leben auf der Flucht, fernab in sibirischer Kälte, in der Weltgeschehen und Nationalitäten irgendwann nicht mehr interessieren. Entflohen von einem unbezeichneten Ort brutaler Lagerhaft schlägt Widuch sich in lebensfeindlicher Umgebung durch und erzählt von all dem in einem Plauderton, der mitunter schaudern lässt.
Widuch schreibt im Jahr 1946 als unzuverlässiger Erzähler der eigenen Geschichte, der sich oft selbst zurechtweist. Die erste Revolution seines Lebens ist der Matrosenaufstand 1918 in Kiel, danach führt ihn sein Weg über die Volksmarinedivision ins bolschewistische Russland und zur Reiterarmee, er heiratet, gründet eine Familie, trennt sich von ihr, wird inhaftiert, flieht. Alles andere als ein romantisches Abenteuer, das macht jede einzelne Seite klar. Abgehackte Körperteile, Tiere und Menschen, die allein als Nahrung mitgeführt werden, Selbstverstümmelung – nichts davon spart Widuch aus. Was, so räsoniert er einmal, sei der ‚bessere‘ Grund zu töten: Überleben für Brot oder im Krieg auf simplen Befehl hin? Als er schließlich Gast in einer sibirischen Dorfgemeinschaft wird, scheint er zur Ruhe zu kommen. Doch auch dort holen ihn die Furcht vor erneuter Gefangennahme und politischen Entwicklungen im Nachkriegsrussland ein.
Szczepans Gesprächspartnerin ist in der Rahmenhandlung nur bereit, unter der Annahme über das Tagebuch zu sprechen, es sei wahr. Ganz unabhängig davon: Die biografisch formulierte Abhandlung zwischen politischem Kommentar und ethnografischer Analyse lässt nachdenklich zurück. Welches Leben kann – und will – man im Wechselspiel der politischen Umstände leben? Wie bleibt man Mensch? Das Lager, so Widuch, beraube jeglicher Ideologie. Nicht ein Mensch sterbe hier, sondern seine Seele.
Szczepan Twardoch: Kälte | Aus dem Polnischen von Olaf Kühl | Rowohlt Berlin | 432 S. | 26 Euro
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