Als sie die ersten Takte der „Indianerlieder“ von Karlheinz Stockhausen hörte, erinnerte sich Ulla Hahn wieder an den denkwürdigen Regentag 1966. Als Studentin hatte sie am Zülpicher Platz in Köln auf den nassen Straßenbahngleisen gesessen, bis die Polizei sie forttrug. Die Fahrpreiserhöhungen der KVB lösten die größte Demonstration aus, die Köln bis dahin gesehen hatte. Die heute 76-jährige erinnert sich weiter, wie sie zwei Jahre später, nach dem Tod von Benno Ohnesorg, eine Kerze im Dom aufstellte. Ihre Kindheit im rheinischen Monheim und die Studienzeit in Köln lässt sie in dem Band „… wie die Steine am Rhein“ noch einmal Revue passieren. Herausgegeben wurde er von der Stadtbibliothek Köln, zusammengestellt von Gabriele Ewenz und verlegt vom Verlag der Buchhandlung Klaus Bittner.
Wie schon die Bände zu Heinrich Böll oder Jürgen Becker geben die schlanken Publikationen der Schriftenreihe „lik“ tiefen Einblick in das literarische Geschehen im Rheinland. Hahn, die heute in Hamburg lebt, zählt zu den bedeutendsten Lyrikerinnen ihrer Generation. Erste Gedichte entstanden 1970. Damals gab ihr Böll den Rat, sie solle „tingele jonn“, also ihr Honorar mit Lesungen aufpolieren. Der Band erzählt von Hilde Domin, einer der großen Lyrikerinnen der Nachkriegsjahre, die aus dem Exil nach Deutschland zurückkehrte. Es finden sich aber auch Passagen, die lebhaft Kölns Café und Jazz-Location, das „Campi“ auf der Hohe Straße, beschreiben.
Als Kind durfte Hahn dort nur durch die großen Glasscheiben schauen, wenn die Familie zum Einkaufen nach Köln kam. In vier Romanen, die sie während der letzten zwanzig Jahre veröffentlichte, schildert sie das Aufwachsen am Niederrhein und beschreibt was es heißt, als Arbeiterkind zu studieren und deshalb eine andere Sprache zu sprechen. Nun reflektiert sie in einem komplexen Essay, wie die Bedeutung von Sprache das Leben verändert. Wie sie Türen öffnet, uns als Personen mit der Andersartigkeit von Menschen konfrontiert und uns selbst wachsen lässt. Aber sie spricht auch davon, wie das gewählte Sprechen die Verbindung zur Herkunft kappt und die Familie in der Studierten eine Verräterin an der eigenen Klasse vermutet.
Der Blick von außen auf die Familie, die Heimat, die Gesellschaft, wie ihn Menschen kennen, die in einem anderen als dem Land leben, in dem sie geboren wurden, hat sich psychologisch auch in das Schreiben von Ulla Hahn eingeprägt. Deutlich wird das dort, wo Hahn über den Rhein schreibt, der sie nicht wegen seiner vermeintlichen Romantik und seiner dramatischen Landschaftskulissen fasziniert. Im Gegenteil, in den flachen, unspektakulären Stromkilometern am Niederrhein, wo man den mächtigen Fluss fast vergisst, dort inspiriert er sie am meisten. Mit seiner Fülle an Erinnerungsbildern beschert dieser Band ein herrliches Lesevergnügen.
Ulla Hahn: „… wie die Steine am Rhein“ – Über Geborgenheit, Heimat und Sprache | Bittner | 95 S. | 16,80 €
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