Nicolas Sarkozy war nicht immer der nette Bussi-Freund Angela Merkels. Bevor er mit der deutschen Kanzlerin zur europäischen Polit-Entität „Merkozy“ verschmolz, rappelte es ordentlich zwischen beiden. 2008 beispielsweise, als gerade die Währungsunion Feuer fing, plädierte der französische Staatspräsident für gemeinsame europäische Instrumente gegen die Bankenkrise, die wenig später die Euroschuldenkrise wurde.
Sarkozy forderte eine europäische Antwort auf ein europäisches Problem. Doch die deutsche Kanzlerin hatte mal wieder ihre nationale Brille auf und sah das Problem lieber in Schwarz Rot Gold, statt in europäischem Blau. Sie bestand darauf, dass das Schuldenproblem vor allem ein griechisches war und verlangte in jener Logik verfangen nationale, also griechische Anstrengungen. Zwei Jahre später holte sie den Vorschlaghammer raus und überlegte gar, den Schuldenstaaten das Stimmrecht zu entziehen – so als sei die Verletzung der nationalen Haushaltsdisziplin dasselbe wie die Missachtung der Menschenrechte, bei der eine so drastische Maßnahme gerechtfertigt gewesen wäre. Merkel stemmte sich gegen jede europäische Vernunft.
Sarkozy kolportierte damals, dass Merkel ihm mit Blick auf Griechenland gesagt habe: „Jedem seine Scheiße“. Die deutsche Delegation bei den Verhandlungen bestritt in der Folge lediglich die Wortwahl. Merkel will mit dem Goethe-Zitat „Ein jeder kehr vor seiner Tür, und rein ist jedes Stadtquartier“ geantwortet haben. Der Kern der Botschaft ist indes derselbe.
Dass diese Anekdote europäischer Machtpolitik überhaupt einer breiten Leserschaft zugänglich ist, haben wir einer Sternstunde des Journalismus zu verdanken. Im Frühjahr 2013 fallen der Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung in Brüssel, Cerstin Gammelin, und ihrem Kollegen vom österreichischen Fernsehen ORF, Raimund Löw, die nach einem italienischen Diplomaten benannten Antici-Protokolle der europäischen Gipfel in die Hände. Die werden verfasst, wenn die europäischen Staats- und Regierungschefs gemeinsam – nach der Lektüre des Buches drängt sich eher ein „gegeneinander“ auf – tagen. Fleißige Mitarbeiter aus allen Mitgliedsstaaten schreiben bei den Treffen auf, was ihnen ein Verbindungsbeamter alle 15 Minuten von den Geschehnissen im Tagungssaal berichtet. Ein direktes Protokoll gibt es nicht. Nur die Antici-Protokolle, eine Art stille und vor allem streng geheime Post.
Gammelin und Löw formulieren anhand der Protokolle aus dem Machtzentrum Europas massive Kritik an der deutschen Politik in der Krise. Deutschlands Weigerung, einem europäischen Rettungsschirm zuzustimmen, verschärfte die Krise erst. Deutschlands politische Linie wurde durch Merkels gnadenlose Interessenpolitik definiert. Während im Fall Griechenland die Anleger nicht haften müssen, weil deutsche Banken große finanzielle Interessen in Griechenland haben, müssen in Zypern die Anleger – zumeist Russen – ab 100.000 Euro haften. Auf Zypern sind deutsche Finanzinteressen nicht berührt. Daheim werden beide Vorgehensweisen dem Wahlvolk als Erfolg verkauft für Deutschland, aber auch für Europa. Ein weiteres Beispiel ist das Lobbying für die deutsche Automobilindustrie bei den CO₂-Werten, oder die Ablehnung einer europäischen Arbeitslosenversicherung, die auch für Deutschland Vorteile bringen könnte.
Deutschland ist zum Hegemon in der EU geworden. Und wie Merkel es soweit gebracht hat, das dokumentieren Gammelin und Löw schonungslos und zeigen die Folgen dieser Politik, die bereits 2013 sichtbar wurden. So besuchte Ende Mai 2013 der chinesische Ministerpräsident Li Keqiang die Schweiz und Deutschland auf seiner ersten Auslandsreise; nach Brüssel schickt er seinen Handelsattaché. Nach dem Besuch des Chinesen folgt der von US-Präsident Obama. Auch er besucht nur Deutschland. Vor dem Brandenburger Tor sagt er, was Sache ist: „Berlin ist das Herz Europas.“ In Peking und Washington weiß man, wer Europa regiert.
Cerstin Gammelin, Raimund Löw: Europas Strippenzieher – Wer in Brüssel wirklich regiert. Econ-Verlag. 384 S., 19,99 €
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