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Stefanie Sargnagel
Foto: Apollonia Theresa Bitzan

Erwachsenwerden zwischen Wien und Milwaukee

17. Februar 2021

Coming-of-Age mit Stefanie Sargnagel und Ayad Akhtar – Wortwahl 02/21

Eingekeilt zwischen kurzen Wintertagen und einsamen Home-Office-Stunden droht die Sehnsucht nach Freiheit und Ausbruch ins Unermessliche zu steigen. Und weil der Freiheitsdrang beim Spaziergang im Stadtpark nur notdürftig befriedigt wird, ist zumindest der Ausbruch in die Literatur ein empfehlenswertes Heilmittel. Im Coming-of-Age-Roman, also jenem Genre, das vom Erwachsenwerden erzählt, sind Freiheit und Ausbruch die größten Verheißungen. Mit „Dicht“ von Stefanie Sargnagel und „Homeland Elegien“ von Ayad Akhtar sind in den letzten Monaten gleich zwei grandiose Coming-of-Age-Romane erschienen.

Stefanie Sargnagel wurde durch humorvolle Kurztexte in den sozialen Medien bekannt, wo sie über ihre Erlebnisse als Callcenter-Mitarbeiterin, Saufexzessen und der folgenden Kater-Depression berichtete. Mit „Dicht“ legt Sargnagel nun ihren ersten Roman vor. Wobei sich die „Aufzeichnungen einer Tagediebin“, wie der Untertitel heißt, mehr wie ein filigran aus der Hüfte geschossenenes Tagebuch lesen. „Dicht“ erzählt die Geschichte eines verträumten Hippies, das sich schnell von der als lebensfeindlich empfundenen Schule abwendet und sich unter Anarchisten, Punks und anderen Lebenskünstlern in den Wiener Parks und Kneipen mischt. Mit ihnen tapert sie durch die Stadt, als wäre es ein großer Kinderspielplatz. Es wird – na klar – eine Menge geraucht und getrunken. Doch „Dicht“ ist mehr als die Ansammlung skurriler Saufgeschichten. Es ist vor allem eine berührende Hymne auf Profidieb und Bordsteinphilosoph „Michi“, in dessen Wohnung die bunten Vögel und Außenseiter eine Heimat finden (Rowohlt, 256 S., 20 €).

Auch „Homeland Elegien“ des amerikanischen Dramatikers und Schriftstellers Ayad Akhtar handelt von Heimat, vor allem aber von dessen Zusammenbruch. Zunächst erzählt der Roman die Geschichte seines Autors nach – wie er sich als Kind pakistanischer Einwanderer in den USA zu einem der bedeutendsten Theatermacher des Landes entwickelt. Gleichzeitig verwischen die Grenzen ins Fabelhafte, wenn Akhtar davon erzählt, wie sein Vater als Leibarzt von Donald Trump arbeitet und ihn später, als dieser Präsident ist, gegen jede Anfeindung verteidigt. Nicht nur eine gekonnt erzählte Bildungsgeschichte, sondern auch ein erkenntnisreiche Diagnose der amerikanischen Gesellschaft, die von der Auflösung des American Dream, dem alten Freiheitsmythos, heimgesucht wird (Claasen, 464 S., 24€).

Florian Holler

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