Eingekeilt zwischen kurzen Wintertagen und einsamen Home-Office-Stunden droht die Sehnsucht nach Freiheit und Ausbruch ins Unermessliche zu steigen. Und weil der Freiheitsdrang beim Spaziergang im Stadtpark nur notdürftig befriedigt wird, ist zumindest der Ausbruch in die Literatur ein empfehlenswertes Heilmittel. Im Coming-of-Age-Roman, also jenem Genre, das vom Erwachsenwerden erzählt, sind Freiheit und Ausbruch die größten Verheißungen. Mit „Dicht“ von Stefanie Sargnagel und „Homeland Elegien“ von Ayad Akhtar sind in den letzten Monaten gleich zwei grandiose Coming-of-Age-Romane erschienen.
Stefanie Sargnagel wurde durch humorvolle Kurztexte in den sozialen Medien bekannt, wo sie über ihre Erlebnisse als Callcenter-Mitarbeiterin, Saufexzessen und der folgenden Kater-Depression berichtete. Mit „Dicht“ legt Sargnagel nun ihren ersten Roman vor. Wobei sich die „Aufzeichnungen einer Tagediebin“, wie der Untertitel heißt, mehr wie ein filigran aus der Hüfte geschossenenes Tagebuch lesen. „Dicht“ erzählt die Geschichte eines verträumten Hippies, das sich schnell von der als lebensfeindlich empfundenen Schule abwendet und sich unter Anarchisten, Punks und anderen Lebenskünstlern in den Wiener Parks und Kneipen mischt. Mit ihnen tapert sie durch die Stadt, als wäre es ein großer Kinderspielplatz. Es wird – na klar – eine Menge geraucht und getrunken. Doch „Dicht“ ist mehr als die Ansammlung skurriler Saufgeschichten. Es ist vor allem eine berührende Hymne auf Profidieb und Bordsteinphilosoph „Michi“, in dessen Wohnung die bunten Vögel und Außenseiter eine Heimat finden (Rowohlt, 256 S., 20 €).
Auch „Homeland Elegien“ des amerikanischen Dramatikers und Schriftstellers Ayad Akhtar handelt von Heimat, vor allem aber von dessen Zusammenbruch. Zunächst erzählt der Roman die Geschichte seines Autors nach – wie er sich als Kind pakistanischer Einwanderer in den USA zu einem der bedeutendsten Theatermacher des Landes entwickelt. Gleichzeitig verwischen die Grenzen ins Fabelhafte, wenn Akhtar davon erzählt, wie sein Vater als Leibarzt von Donald Trump arbeitet und ihn später, als dieser Präsident ist, gegen jede Anfeindung verteidigt. Nicht nur eine gekonnt erzählte Bildungsgeschichte, sondern auch ein erkenntnisreiche Diagnose der amerikanischen Gesellschaft, die von der Auflösung des American Dream, dem alten Freiheitsmythos, heimgesucht wird (Claasen, 464 S., 24€).
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Archiv des Verschwundenen
Piuk und Schneider lesen in Köln
Wem gehört Anne Frank?
„Immer wenn ich dieses Lied höre“ von Lola Lafon – Literatur 02/25
Schrecklich komisch
Tove Ditlevsens Roman „Vilhelms Zimmer“ – Textwelten 02/25
Um die Wette dichten
Best of Poetry Slam am Comedia Theater
Unsichtbare Krankheiten
„Gibt es Pflaster für die Seele?“ von Dagmar Geisler – Vorlesung 01/25
Mit KI aus der Zwangslage
„Täuschend echt“ von Charles Lewinsky – Literatur 01/25
Doppelte Enthüllung
„Sputnik“ von Nikita Afanasjew – Literatur 12/24
Eine wahre Liebesgeschichte
Thomas Strässles „Fluchtnovelle“ – Textwelten 12/24
Übergänge leicht gemacht
„Tschüss und Kuss“ von Barbara Weber-Eisenmann – Vorlesung 11/24
Die zärtlichen Geister
„Wir Gespenster“ von Michael Kumpfmüller – Textwelten 11/24
Zurück zum Ursprung
„Indigene Menschen aus Nordamerika erzählen“ von Eldon Yellowhorn und Kathy Lowinger – Vorlesung 10/24
Eine Puppe auf Weltreise
„Post von Püppi – Eine Begegnung mit Franz Kafka“ von Bernadette Watts – Vorlesung 10/24
Aufwändige Abschlüsse
Comics, die spannend Geschichten zu Ende bringen – ComicKultur 02/25
Massenhaft Meisterschaft
Neue Comics von alten Hasen – ComicKultur 01/25
Gespräch über die Liebe
„In einem Zug“ von Daniel Glattauer – Textwelten 01/25
Kampf den weißen Blättern
Zwischen (Auto-)Biografie und Zeitgeschichte – ComicKultur 12/24
ABC-Architektur
„Buchstabenhausen“ von Jonas Tjäder und Maja Knochenhauer – Vorlesung 11/24
Comics über Comics
Originelle neue Graphic Novels – ComicKultur 11/24