Nach Jahren künstlerischer Musical-Stagnation, kommt die Oper Bonn nun mit Karl Absengers Inszenierung des Genre-Klassikers „Anatevka“ steil aus dem Gebüsch. Wiekaum ein Musical steht und fällt das 1964 unter dem – von einem Bild Marc Chagalls inspirierten – Titel „Fiddler on the Roof“ am Broadway uraufgeführte Stück so sehr mit seinem Hauptdarsteller: Wenn der Milchmann Tevje nicht die Bühne beherrscht, kann man das Ganze vergessen.
Und der Musical-erfahrene Karl Absenger hat mit dem Wiener Gerhard Ernst einen wahren Glücksgriff getan, gesanglich und schauspielerisch. Schon mit seinem ersten Song („Wenn ich einmal reich wär‘“) hat er die Herzen des Publikums erobert, und amüsiert es mit seinen ironischen Zwiegesprächen mit Gott und seinen philosophischen Einerseits-Andererseits-Selbstgesprächen. Denn Tevje hat es nicht leicht in dem russisch-jüdischen Dorf am Anfang des letzten Jahrhunderts: Die Revolution wirft ihre Schatten voraus, die aufkommende Pogromstimmung treibt viele Dorfbewohner in die Migration. Und da gilt es auch noch, drei seiner fünf Töchter zu verheiraten. Und über allem schwebt wie ein Damoklesschwert die Tradition.
Glücklicherweise erliegt Absenger nicht der Versuchung, das Musical auf die aktuelle Flüchtlings-Problematik umzumünzen.
Er legt zusammen mit seiner kongenialen Ausstatterin Karin Fritz auf ein atmosphärisch stimmiges Zeitbild, in dem er ein bis in die kleinste Nebenrolle treffend besetztes Ensemble mit überschäumender Spielfreude agieren lässt. Selbst dem Opern-Chor hat er seine Bräsigkeit ausgetrieben, und wenn sie dann zu den dynamischen Choreografien vonVladimir Snizek „Zum Wohl, zum Wohl, l‘chaim“ anstimmen, möchte man am liebsten mit ihnen auf diesen wunderbaren Abend zwischen (jüdischem) Humor, Besinnlichkeit und Poesie anstoßen.
Einen ganz anderen Weg geht Robert Gerloff am Essener Grillo-Theater. Er hat die Shaw‘sche „My Fair Lady“ (1913 als „Pygmalion“ erschienen) völlig auf den Kopf gestellt und der Musik von Frederik Loewe aus dem Jahre 1956 völlig neue Reize abgewonnen. Statt des einschmeichelnden Operettensounds eines Streicher-lastigen Orchesters hört man hier ein jazziges Quintett unter der Leitung von Hajo Wiesemann, das sich auch schon mal unter die Schauspieler auf der Bühne mischt. So swingt Freddie seine Liebesklärung an Eliza auf Englisch („On the Street Where You Live“), während alle anderen Songs in Deutsch erklingen. Und Elisa verkauft ihre Blumen nicht von einem Theater, sondern vor einem Londoner Pornokino der 60er Jahre, in dem „Faust uncut“ läuft. Auch die Pantoffel darf sie Higgins am Ende nicht bringen, denn Gerloff hat für sie – genauso wie für ihren Vater – ein ganz anderes Happy End vorgesehen, als man es als „My Fair Lady“-Fan gewohnt ist. Aber das sei hier nicht verraten. Man muss sich schon nach Essen aufmachen, um diese großartige – und längst überfällige – Neuinterpretation eines Musical-Klassikers zu genießen. Da kann sich der Broadway mal eine Scheibe bei uns abschneiden!
„Anatevka“ | R: Karl Absenger | So 15.5., So 22.5. 18 Uhr, Fr 3.6. 19.30 Uhr | Theater Bonn, Opernhaus | 0228 77 80 08
„My Fair Lady“ | R: Robert Gerloff | Sa 7.5., Sa 21.5.19.30 Uhr, So 12.6. 19 Uhr | Grillo-Theater Essen | 0201 81 222 00
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