Europa hat ein schlechtes Image. Wenn in Berlin und anderswo etwas schiefläuft, schieben Politik und Medien gerne „Brüssel“ die Schuld zu. Die Europäische Union ist dann zu teuer, zu kompliziert und vor allem ganz bürgerfern. Sie bedroht unsere „nationale Identität“, verschwendet „unser“ Geld und macht schlechte Gesetze – die inzwischen abgeschaffte Vorschrift über den Krümmungsgrad der Salatgurke garantiert noch heute hämische Lacher. Und dann die EU-Bürokratie! Dabei wird die EU-Politik von den nationalen Regierungen geprägt, ist die Kölner Stadtbürokratie bezogen auf die Einwohner um ein Vielfaches größer als der EU-Apparat, und am Thema „Bürokratie-Abbau“ in NRW arbeitet die CDU/FDP-Landesregierung seit längerem mit geringem Erfolg.
Giuseppe Ponti, den Inhaber der Bar Europa in Köln-Poll, lässt diese Parteipolitik kalt. Seit er seine Sportsbar zur Fußball-EM 1988 eröffnet hat, ist für ihn der Satz gültig: „Wir sind Europäer, immer.“ Das um so mehr, als bei ihm regelmäßig die Spiele der UEFA Champions League zu sehen sind und der AC Mailand schon dreimal die Meisterklasse gewonnen hat. Das verleiht Pontis Begeisterung europäische Weihen. Fußball verbindet nicht nur Profis und Fans grenzüberschreitend, auch die Fußballgruppe der Kölner Stadtverwaltung kickt gelegentlich gegen die Kollegen aus der Partnerstadt Thessaloniki. Europa im Namen führen auch der Tanzsportclub TSC Europa, das Hotel Europa am Dom oder der Euro-Grill in Kalk (den Namen gab’s schon vor der Währungsreform). Das Europäische Kulturzentrum Ignis in Köln-Riehl kümmert sich vor allem um Osteuropa – vom deutsch-polnischen philosophischen Verein bis hin zum „Treffpunkt für homosexuelle OsteuropäerInnen“. Aber auch, wo Europa nicht draufsteht, ist meist Europa drin. Für Ausbildungsstätten wie die Kölner Uni und FH sind europaweite Kooperationen und ein internationaler Studenten-Austausch selbstverständlich. Praktika für ausländische Studierende besorgt auch die IHK Köln, daneben beschäftigt sie sich mit europäischen Ex- und Import-Vorschriften. Es gibt in Köln sogar eine veritable europäische Behörde: In Deutz arbeitet die Europäische Agentur für Flugsicherheit. Die rund 500 Mitarbeiter aus ganz Europa bemühen sich vor Ort um Anschluss – so unterstützt die EASA das Bürgerzentrum Deutz mit Aufträgen und Werbemaßnahmen.
Auftritt im Cavern
Ein guter Teil des vernetzten europäischen Alltags geht auf Städtepartnerschaften zurück. Sie brachten Menschen ehemals verfeindeter Nationen zueinander und halfen, Vorbehalte und Misstrauen abzubauen. Von den 23 Kölner Partnerstädten liegen 21 im Ausland, als bisher letzte kam 1997 Istanbul dazu. Den Anfang machte 1952 Liverpool. Beste Verbindungen zu den Ufern des Mersey hält die Kölner Beatband „The Roaring Fourties”. Sie traten schon 12mal im legendären Cavern Club auf, sind Ehrenmitglieder der Musiker-Vereinigung Merseycats und gründeten am Rhein den Partnerverein mit. Frontman Manfred Jung brachte es sogar zum Liverpooler Ehrenbürger. Für gute Kontakte sorgt auch die Initiative „Eight Days A Week“, die seit 1998 bei rund 100 Veranstaltungen über 100 Künstler aus beiden Städten zusammenbrachte. Gastronomisch rundet das Kölner „Haxenhaus“ die Beziehung durch seine Verbindung zu den Twinpubs „Dr.Duncan“ und „Thomas Rigby“ in Liverpool ab.
Oder Istanbul. Bei über 100.000 Kölnern mit türkischem Migrationshintergrund lag die Partnerschaft mit der Bosporus-Metropole auf der Hand. Neben dem familiären Hin und Her haben insbesondere die Schülerschaft und Jugendliche durch gegenseitige Besuche Kontakte geknüpft. Den wirtschaftlichen Brückenschlag unterstützt die Deutsch-Türkische Handelskammer, die allein in Köln ?? Unternehmen betreut. Um sportliche und musikalische Begegnungen kümmert sich der Partnerschaftsverein. Auf dem Programm seiner jüngsten Studienfahrt („Das junge Istanbul“) stehen ein Besuch bei Galatasaray und eine Party mit Kölner und Istanbuler DJs.
Networking für alle Fälle
Um Europäisches sorgt sich die Kölner Stadtverwaltung tagtäglich. Ihr Engagement beginnt bei der „umfassenden Sanierung“ des Toilettentrakts der Europaschule in Zollstock und reicht über den Klimawandel, Bürger-, Minderheiten- und Menschenrechte bis hin zum interkulturellen Zusammenleben. „Die Städtebeziehungen globalisieren sich, Internationalität ist Standortfaktor“, sagt Frieder Wolf, Leiter des stadtkölnischen Büros für internationale Angelegenheiten. Wolf koordiniert die internationalen Aktivitäten und verknüpft sie mit regionalen, europäischen und internationalen Städtenetzwerken. Die kommunale Außenpolitik verlangt schon auf regionaler Ebene viel Fingerspitzengefühl: Alle Beteiligten – Kommunen, Kreise und Verbände – wollen auf „Brüssel“ Einfluss nehmen. Es gilt, Interessen auszutarieren und zu kombinieren. Schlichte Vorschläge wie der, in Brüssel einfach ein Europabüro für Köln einzurichten, lässt diese komplexe Wirklichkeit außer Acht – ein typisch kölsches Relikt wie der lokale Klüngel.
Eigentlich müsste die Kommunalpolitik den Bürgern die europäischen und globalen Bezüge im Alltag vermitteln. Die meisten Parteigänger sind allerdings meist auf lokale Grabenkämpfe fixiert und scheinen darüberhinaus überfordert. Europa war bisher für traditionelle Kommunalos eher ein weites Feld für „Lustreisen“, die stadtnahe Firmen finanzierten. Dabei kann Reisen im besten Fall bilden. Statt sich im Vorfeld in Brüssel über europäische Wettbewerbsregeln kundig zu machen, kungelte man etwa in Sachen Deutzer Messehallen lieber daheim im Veedel. Das Ergebnis: Der Europäische Gerichtshof wird noch vor Ende der Amtszeit von OB Fritz Schramma (CDU) die Rechtmäßigkeit der Klüngelei überprüfen.
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