Wie kriegt man es hin, ein kleines Schwein so zu zeichnen, dass es nicht unglaublich niedlich ist? Wie kann es sein, dass ich einen Comic voller niedlicher Tiere lese, und nicht bei jedem Panel vor Verzückung quieke? Indem man ihnen, dem Schwein, den Igelchen, dem Eichhörnchen und auch den weniger herzigen Lebewesen menschliche Züge verleiht. Denn die hässlichsten Gestalten sind, obwohl sie selten als mehr als gesichtslose Statisten dargestellt werden, die Menschen selbst. Ihr Handeln und ihre Werke sprechen für sich. Das Menschliche macht hässlich. Man könnte dies als eine Botschaft des Comics „Arche Neo“ ansehen und das wäre nicht falsch.
Doch es wäre plakativ und eindimensional. Darum fällt es mir schwer, „Arche Neo“ eine Fabel zu nennen, wie es der Splitter-Verlag selbst tut. Das Werk ist nämlich weitaus mehr als das. Es zeigt die Unmenschlichkeit der Menschen und das, was wir euphemistisch Menschlichkeit nennen – also Güte, Treue, Hoffnung und den ganzen Kram, aber auch die Selbstsucht und die Sturköpfigkeit – der Tiere. „Arche Neo“ ist Abenteuergeschichte, Tierschutzmanifest, Sozialstudie, Tragikomödie und Karikatur. Manches davon ist es überzeugend, in anderen Aspekten finden sich Schwächen. Insgesamt bleibt das Urteil: stark empfehlenswert.
Neo war Instagram-Influencer und Werbestar, bis sein Äußeres das nicht mehr zugelassen hat. Denn er ist ein Schwein, und wo ein Ferkel noch Herzen erweichen kann, reicht ein ausgewachsenes Schwein doch höchstens zum Schnitzel. Wobei Neo selbst dafür zu klein ist. Damit wird er als einer der Protagonisten zum Sinnbild für unsere von Sehnsüchten getriebene Oberflächlichkeit. Gleichzeitig stellt er unausgesprochen die Frage nach dem Zweck solcher Züchtungen. Doch Neo hat Glück, er kommt auf einem anarchistisch geführten Bauernhof unter – der einem „ordentlichen“ Rechtssystem natürlich ein Dorn im Auge ist. Die Razzia wird zum Ausgangspunkt für Neos Abenteuerreise zu einem gefürchteten Ort namens „Schlachthof“. Gemeinsam mit dem dickköpfigen Schaf Soasig, der grüblerischen Kuh Renate und dem Huhn Ferdinand kämpft er sich durch die mitteleuropäische Kulturlandschaft. Dabei merkt die Gefolgschaft, dass sie in keiner Welt richtig zu Hause ist. Die „Wildnis“ (also der gemeine Mischwald) ist ihnen fremd, die Wildschweine feindlich gesinnt; die „Zivilisation“ überfährt sie, eine Milchkuh ist ohne regelmäßiges Melken ziemlich aufgeschmissen. Der Wildhase-Hauskaninchen-Mischling bringt es auf den Punkt: „Ich bin überall fremd und nirgendwo zu Hause.“
Ja, man merkt dem Comic an, dass Autor Stéphane Betbeder eher mit den Anarchisten sympathisiert als mit der Polizei. Und ja, dem Schlachthof ist in der Geschichte wirklich nichts Gutes abzugewinnen. Doch „Arche Neo“ will gar nicht mit erhobenem Zeigefinger zum Veganismus erziehen. (Wer Massentierhaltung an sich klasse findet, wird mit diesem Comic ohnehin nichts anfangen können. Dem- oder derjenigen sei gute Lektüre sowieso nicht gegönnt.) Vielmehr wecken die Charaktere und Paul Frichets ausdrucksstarke Zeichnungen beim Leser Sympathien für die tierischen Protagonisten (wenngleich dies erst nach einer nicht ganz so geglückten Exposition erfolgt). Und die Reflexion über unser eigenes Verhältnis zur Natur stellt sich dabei ganz von alleine ein. Wenn wir nämlich lernen, dass auch Schweine zusammen mit ihren Artgenossen und „Menschenweibchen mit Zitzen in Beuteln“ auf den Bahamas planschen wollen, dann merken wir, dass wir uns gar nicht so unähnlich sind.
„Als die Tiere den Wald verließen“ hat eine ganze Generation bewegt, „Unten am Fluss“ hat sie verstört. Es wird Zeit, dass eine neue Generation ein vergleichbares Werk bekommt. „Die Arche Neo“ könnte ein solches sein. Schade nur, dass in Deutschland dem Medium Comic diese Aufmerksamkeit nicht zuteil wird.
„Die Arche Neo. Band 1: Tod den Rindviechern!“ ist im Dezember 2019 im Splitter-Verlag erschienen. Die Fortsetzung ist im französischen Original für Juni 2020 angekündigt.
Stéphane Betbeder & Paul Frichet: Die Arche Neo. Bd. 1: Tod den Rindviechern! | Übers. von Tanja Krämling | Splitter-Verlag | 64 S. | 16,00 Euro
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