Es ist Dienstag, der 8.12.2015 und im Kaminzimmer des Belgischen Haus hat sich eine Vielzahl an Menschen eingefunden, um über die aktuelle Flüchtlingskrise zu debattieren. Im Zentrum der Diskussion, und in der Mitte des Raumes, sitzt die deutsch-belgischen Autorin Rosine De Dijn. Gemeinsam mit der renommierten Professorin Sabine Rollberg möchte sie über das Thema Migration sprechen und dabei Parallelen ziehen zu ihren historisch-orientierten Romanen.
Der Veranstalter des Belgischen Hauses begrüßt zu Beginn Rosine De Dijn und bezeichnet sie mit einem Augenzwinkern als „ein Monument der Deutschen Literaturkultur“. Und das ist sie wahrlich. De Dijn wurde 1941 in Flandern geboren, wuchs in Antwerpen auf und verließ 1966 ihre Heimat, um ins Rheinland in die Nähe von Köln zu ziehen. Dort arbeitete sie fortan als freie Journalistin und Schriftstellerin für flämische Zeitungen, deutsche Zeitschriften, den belgischen Rundfunk und schrieb dutzende Bücher.
Aufgrund ihrer biographischen Vergangenheit weiß sie aus erster Hand mit welchen Erfahrungen Migranten, die nach Deutschland reisen, konfrontiert werden und verfügt dadurch über die nötige Kompetenz und das angemessene Feingefühl, um adäquat auf die Thematik eingehen zu können. „Ich brauchte damals 25 Jahre, um richtig Deutsch zu lernen“, erzählt sie. „Das war für mich wie eine Amputation. Die Sprache war mein Instrument, meine Geige“. Es erfordere sehr viel Geduld und Ausdauer seitens der Migranten eine fremde Sprache zu erlernen – zumal nicht jeder Mensch gleichermaßen Sprachbegabt ist, schließt sie. Diese Geduld ist jedoch ebenfalls von den Einheimischen vonnöten.
Einer ihrer historischen Romane, „Liebe, Last und Leidenschaft – Frauen im Leben des Rubens“, spielt im 16. Jahrhundert und handelt von dem Leben des Malers Peter Paul Rubens. Dieser und seine Familie lebten zur Zeit der Bilderstürmer im Zuge der kirchlichen Reformation in Antwerpen. Damals mussten im Zuge religiöser Verfolgungen, seitens der spanischen Obrigkeit in Flandern, viele Menschen nach Deutschland flüchten, auch nach Köln. Der damalige Fürst von Oranien, Wilhelm I., zog sogar mit seiner kompletten Armee nach Deutschland, weil „ihm die Luft zu dünn wurde“, so De Dijn.
Mehrere Tausend Niederländer verließen also damals Antwerpen, um der Glaubensverfolgung durch die spanischen Unterdrücker zu entgehen und gingen nach Köln.Trotz der guten wirtschaftlichen und teils familiären Beziehungen zwischen Köln und Antwerpen missfiel deren Einreise jedoch vielen Kölnern. Besonders die reichen Großbürger und die Zünfte sahen ihre Arbeit gefährdet durch die Fremden in der Stadt. Der Wohnraum wurde knapper, und diejenigen ohne Geld wurden der Stadt verwiesen.
Ein besonders schmerzhafter Dorn im Auge des Kölner Stadtrats waren die ketzerischen Predigten der Antwerpener. Köln war damals urkatholisch, weshalb die Gottesdienste der Protestanten kategorisch verboten wurden. Selbst die Friedhöfe wurden zu Beginn nicht mit den Andersgläubigen geteilt und somit mussten viele ihre Angehörige in Nacht und Nebelaktionen in nahegelegenen Wäldern bestatten.
Ein ähnliches Drama zeigt die biographische Geschichte einer jüdischen Familie aus der Ukraine, die 1941 nach Budapest floh, um der dortigen antisemitischen Verfolgung zu entgehen. In Budapest gab es zwar noch eine intakte jüdische Gemeinde, die jedoch bereits derart assimiliert war, dass sie ihren Glaubensgenossen mit großem Unmut begegnete, als diese immigrierten. De Dijn liest eine Passage aus dem Buch „Du darfst nie sagen, daß du Rachmil heißt“: „Niemand wollte uns aufnehmen. Wir Ostjuden galten als Arm und Dreckig und niemand wollte unsere Schreckensgeschichten hören. Wir fanden nicht zueinander“. Zudem kamen auch hier die sprachlichen Hürden zu tragen. Die ständige Angst vor Abschleppung und Ausgrenzungen änderte sich erst allmählich mit dem Erlernen der Sprache.
„Es ist unheimlich enttäuschend von denen nicht aufgenommen zu werden, von denen man es erwartet hätte“, rezitiert die belgische Autorin. Ironischerweise waren es die flüchtigen Juden, die damals den gut konstituierten Juden in den Konzentrationslagern hätten helfen können zu überleben, als das faschistische Nazi-Regime auch in Budapest Einzug erhielt. „Die ganzen wohlhabenden Apotheker, Juristen und Banker unter den Juden starben wie die Fliegen als sie in die Lager kamen“, weil sie das harte Leben im Lager gänzlich überforderte“, erzählt De Dijn.
Was lernen wir aus diesen Begegnungen der Vergangenheit? „Man braucht sehr viel Geduld mit Flüchtlingen“, meint De Dijn. Eine Willkommenskultur existiere ihrer Meinung nach in Deutschland nicht: „Niemand ist willkommen“. Die Ungeduld der Einheimischen sei Problem. Man erwarte, dass diese Menschen sich sofort in unsere Gesellschaft eingliedern. Sie bringen aber ihre eigene Kultur und Geschichte mit, die sie natürlich nicht aufgeben wollen und erst einmal verarbeiten müssen, weil sie Teil ihrer Identität ist. Der gesellschaftliche Druck sei jedoch sehr groß und viele Asylanten kämpften auch mit Schamgefühlen. „Man fühlt sich schuldig, will unsichtbar werden“, erläutert die Belgierin.
Man müsse nicht übertrieben sensibel sein, um diese Menschen zu verstehen. Aber man brauche eine Unmenge an Geduld. Natürlich müssen sich die Flüchtlinge an unsere Gesellschaft anpassen, oder diese zumindest akzeptieren. Trotz Pegida und neuerer Rechts-Bewegungen ist dies aber auch glücklicherweise genau der Fall. Die historische Vergangenheit Deutschlands zeigt immer wieder Konfrontationen mit Flüchtlingen. Viele Menschen haben Großeltern in der Familie, die selbst einmal ihre Heimat verlassen mussten und dementsprechend über die biographische Sensibilität verfügen, die diesem Thema angemessen ist.
Eine allgemeine Antwort auf die Flüchtlingsfrage gibt es nicht – die muss wohl jeder in sich selbst finden. Aber durch viel Neugier, Geduld und den Dialog mit diesen Menschen, können wir einander besser verstehen und entdecken vielleicht die ein oder andere Gemeinsamkeit in unserem Lebenslauf. Letztlich sind wir alle bloß Menschen, die nach einem glücklichen Leben streben.
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