Adiletten sind Pflicht. Khakihose auch. Und Socken in Schwarz, in Rot und in Gelb müssen sein. Asta Nechajute, Julia Knorst, und Anne K. Müller geben den deutschen Militär-Michel des 21. Jahrhunderts als Gemütsterroristen. Doch zunächst werden im Stil Elfriede Jelineks Begriffe in den hermeneutischen Kreisel geschickt, dass es den Betrachter schwindelt. Zwischen rechts und Recht liegt nur ein Buchstabe und wer „uns“ und „die“ sind, hängt eben ganz von Standpunkt ab. Die Bedeutungen geraten ins Trudeln, bis die Ambivalenz kaum noch zu überschauen ist. Dann geht das Nö-Theater in medias res und rollt den Fall des früheren KSK-Soldaten André Schmitt und seines „Hannibal“-Netzwerks auf.
Die Produktion „Der Hannibal-Komplex“ des Nö-Theaters muss als Fortsetzung des Stücks „Francos Hermannschlacht“ um den Bundeswehroffizier Franco Albrecht gelesen werden. Sein Fall (der gerade vor Gericht in Frankfurt/M. verhandelt wird), also seine Doppelidentität als syrischer Flüchtling und Bundeswehroffizier sowie sein Pistolenversteck auf dem Wiener Flughafen, bilden den Ausgangspunkt. Julia Knorst mit Offiziersjacke gibt einen naiv-leutseligen Franco A., der jede Frage der mit Preußenbärten, Strick- und Lederjacke ausstaffierten Polizisten oder der Staatsanwälte locker kontert oder ins Leere laufen lässt. Der ironische Dokumentarismus des Nö-Theater (Text & Inszenierung: Asim Obodašić) hat dabei nichts mit Verharmlosung zu tun, sondern ist eher Reflex des ungläubigen Staunens angesichts des Offensichtlichen.
Über die Schilderung der Prepper-Szene, also der Menschen, die sich auf einen vermeintlichen Zusammenbruch des Staates als Tag X mit Plänen für einen Umsturz vorbereiten, kommt dann allmählich André Schmitts (Tarnname: Hannibal) gegründete Gruppe Uniter als Netzwerk früherer Polizisten, Elitesoldaten und Personenschützer ins Visier. Das Performerinnen-Trio wirft sich in Wüstenuniformen, zieht Stacheldraht über die Bühne und fuchtelt kräftig mit Waffen. Dabei enthüllen die drei in der euphemistischen Sprache eines Werbevideos sarkastisch die Ziele von Uniter als camouflierte rechte Propaganda. Gleichzeitig wird auch der frauenfeindliche Maskulinismus der Rechten mit durch den Kakao gezogen.
Dass sich von Uniter zahlreiche Verbindungen zum NSU, zu Bundeswehr, BKA, MAD und Verfassungsschutz herstellen lassen, dass der Übergang zwischen staatlichen Institutionen und staatsgefährdenden Gruppen oder Parteien fließend wird – darin liegt das Ungeheuerliche. Mitbegründer von Uniter war beispielsweise ein Verfassungsschutzmitarbeiter. Die am Beginn der Aufführung zelebrierte Verflüssigung von Begriffsbedeutungen verliert damit ihre spielerische Manier und materialisiert sich im Politischen selbst. Grauzone als Haltung. Man braucht nicht gleich von Verschwörungstheorien zu faseln, aber dass die endlos breitgetretene These von den Einzeltätern damit kaum mehr als eine beschwichtigende Strategie von Justiz und Politik ist, das lässt sich an diesem sehr sehenswerten Abend schließlich auch noch lernen.
Der Hannibal-Komplex | R: Asim Obodašić | weitere Termine für Februar 2022 in Planung | 0221 2801
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Frische Einblicke“
Filmreihe des Refugee's Cinema Project ist online – Interview 01/21
Wege zum Selbst
Coaching junger Migranten in Köln-Ehrenfeld
Living in a Box
„Making Home – Zuhause in der Fremde gestalten“ im Atelierzentrum Ehrenfeld – Kunst 01/19
Wir müssen reden
Britney X Festival thematisiert Diskriminierung und Recht auf Abtreibung – Spezial 05/18
Flüchtlingsschicksale
„Exodus – Der weite Weg“ in der Außenspielstätte am Offenbachplatz – Foyer 03/18
Neue Hoffnung schöpfen
Premiere des Kinderfilmprojekts „Grenzenlos“ – Kino 03/18
Blick nach vorne
Aktion „Reformation II“ von Pfarrer Hans Mörtter am Reformationstag – Spezial 11/17
„Positivhaltung vermitteln“
Ein Filmprojekt – nicht nur für Kinder in Flüchtlingssituationen – Spezial 08/17
System Error (2)
Pluriversale VI: Arun Kundnani analysiert Islamophobie – Spezial 07/17
Diskussion statt Demonstration
„Arsch huh“ sucht die Diskussion in den Veedeln – Spezial 06/17
Ansichten aus der Helferperspektive
„Fluchtpunkt“ im Literaturhaus mit Ann-Kathrin Eckardt und Michael Richter – Spezial 05/17
Investiere in ein buntes Köln
Sport für ein Dinner: Crowdfunding-Projekt „Welcome Dinner Köln“ – Spezial 04/17
Schussbereite Romantik
„Der Reichsbürger“ in der Kölner Innenstadt – Auftritt 01/25
Klamauk und Trauer
„Die Brüder Löwenherz“ in Bonn – Theater am Rhein 01/25
Ein Bild von einem Mann
„Nachtland“ am Theater Tiefrot – Theater am Rhein 12/24
Im Land der Täter
„Fremd“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 12/24
Fluch der Stille
„Ruhestörung“ am TdK – Theater am Rhein 12/24
Freude und Bedrückung
35. Vergabe der Kölner Tanz- und Theaterpreise in der SK Stiftung Kultur – Bühne 12/24
Das Mensch
„Are you human“ am TiB – Theater am Rhein 12/24
Lang lebe das Nichts
„Der König stirbt“ am Schauspiel Köln – Auftritt 12/24
„Andere Realitäten schaffen“
Dramaturg Tim Mrosek über „Kaputt“ am Comedia Theater – Premiere 12/24
Vererbte Traumata
Stück über das Thiaroye-Massaker am Schauspiel Köln – Prolog 12/24
Selbsterwählte Höllen
„Posthuman Condition“ am FWT – Theater am Rhein 11/24
Biografie eines Geistes
„Angriffe auf Anne“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 11/24
Tanzen gegen Rassentrennung
„Hairspray“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 11/24