Am Ende jeder Geschichte lauert der Tod. Schon in den ersten Sätzen spürt man ihn, seinen Schatten wirft er unweigerlich voraus. In seinen Vorboten ereignet sich dennoch die Liebe, manchmal lodert sie nur kurz auf, mitunter wärmt sie aber für ein ganzes Leben. Erwin Koch hat sie aufgeschrieben, die Liebesgeschichten, und im Titel seines neuen Buchs „Was das Leben mit der Liebe macht“ ist ihr Programm auch schon enthalten. Diagonal durch alle gesellschaftlichen Klassen folgt er ihnen, den Geschichten von Doris und Josef, Annely und Alois, Rodrigo und Marjorie oder Daniel und Yvonne. Insgesamt neun Biographien der Liebe folgen wir auf ihren gewundenen Wegen, vom ersten Treffen bis in die Verwicklungen des Alltags. So spannend lesen sie sich, dass man mit jedem Satz wissen will, was den Liebenden wohl als nächstes geschieht. Manchmal heiraten sie, nachdem es kräftig zwischen ihnen gefunkt hat, dann bekommen sie Kinder, es gibt bedrohliche Krankheiten, Momente des Glücks, die sie nie vergessen.
Es gibt aber auch Geschichten, in denen einer getötet wird, in denen jemand eine Dummheit begeht, oder einem dunklen Trieb folgt. Immer jedoch sind diese Doppelporträts voller Zärtlichkeit. Für sie hat Erwin Koch ein feines Ohr, wenn er sich das Leben der Menschen berichten lässt und die Einzelteile zu einer kompletten Erzählung verdichtet. Vom Ende aus betrachtet wird ja auch jedes Leben zu einer „wahren“ Geschichte, wie es hier heißt, und Koch weiß natürlich, dass das Leben die besten – weil überraschendsten und schicksalsschwersten – Geschichten schreibt.
Die Sogkraft dieser Prosa liegt in dem scheinbar sachlichen Stil, mit dem Erwin Koch arbeitet. Ein Ton, der Fakten mit einer kalkulierten Emotionalität auflädt. Koch versteht es, ein Leben effektvoll über Details zu charakterisieren. Was essen die Liebenden, was tun sie füreinander, welche Sehnsüchte bewegen sie. So erfahren wir, wie die kleinen Eisenbahner in der Schweiz oder die wohlhabenden Besitzbürger Südamerikas durch den Tag kommen. Erwin Koch hat für die großen Zeitungen und Magazine Deutschlands geschrieben, aber dieses Buch gehorcht einem eigenen Rhythmus, seine Geschichten wirken besonders konzentriert und stehen doch alle im Bezug zueinander. Jede erzählt eben auf ihre Weise von einem kleinen Wunder. Ein Buch, das einem in Gedanken noch lange nachgeht und das man gerne wieder in die Hand nimmt, weil es in seinem großen, roten Format zu einem kostbaren Gegenstand wird, ganz so, wie es dem Wunder der Liebe entspricht.
Erwin Koch: Was das Leben mit der Liebe macht. Wahre Geschichten | Corso Verlag | 136 S., 19,90 Euro
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