choices: Herr Barfuß, entgegen der immer noch virulenten Vorurteile feiert Ihre Show die Lust am Alter, ohne dessen Kehrseiten zu beschönigen. Wird der „Ageismus“ im Alltag schlimmer?
Michael Barfuß: Das musikalische Medium unserer Show sind Songs der Gegenwart, aber lyrisch verwenden wir teilweise Texte, die Jahrhunderte alt sind. Sie zeigen: Diese Diskriminierung gab es schon immer. Das Programm spielt mit Klischees, um sie auszuhebeln, verhandelt aber auch die ganz realen Probleme des Alters.
Zum Beispiel?
Die Einsamkeit. Der Tod lieber Mitmenschen. Das nachlassende Gedächtnis. Das sind ganz reale Begebenheiten, mit denen man klarkommen muss, die aber unter der Decke bleiben.
Es geht also weniger darum, diskriminierende Klischees zu widerlegen, als vielmehr darum, zu thematisieren, was im Alltag durch den Jugendwahn ausgeblendet wird?
Ja. Einen unserer ältesten Darsteller fragte ich damals: „Was ist Ihr Grundgefühl?“ Er antwortete sofort: „Freiheit.“ Die Freiheit, nicht mehr berufstätig sein zu müssen und Dinge verwirklichen zu können, die man immer aufgeschoben hat. Natürlich gehören aber auch negative Seiten zum Lebensgefühl des Alters. Aufkommende Krankheiten und die Lust, zu viel über sie zu reden. In der Vergangenheit schwelgen. Wir haben Texte gefunden, die genau das sehr satirisch und in einer freudigen Bosheit aufs Korn nehmen. Gleichzeitig zeigt es Gegenbilder. Immerhin tanzen die Darsteller zwei Stunden lang.
Sie selbst gehören als freiberuflicher Künstler zu den Menschen, die ewig berufstätig bleiben. Ihre Darsteller oft nicht. Sind das Amateure oder ehemalige Profis der Branche?
Wir haben sie ursprünglich nach zwei Kriterien gecastet. Erstens: Sie sollten ein Eintrittsalter von mindestens 63 Jahren haben. Zweitens: Sie sollten alle in irgendeiner Form singen können. Einige sind so gut, dass sie solistisch tätig werden können, gesegnet mit einer unglaublichen Rock’n’Roll-Stimme. Zugleich ist der Chor an jeder Szene beteiligt. Ergänzend haben wir junge Damen, von der eine mittlerweile professionell Gesang studiert.
Nach welchen Kriterien haben Sie die Musik zusammengestellt?
Thematisch. Ob die Fantastischen Vier oder Marteria. Ob The Who oder Tom Waits, Samy Deluxe oder Bosse: Hauptsache, die Lieder erzählen etwas, zu dem man anrührende bis witzige Situationen über das Leben, das Alter, Bilder der Schönheit oder den Generationenkonflikt erzählen kann.
Thema Alter und Drama: In einem aktuellen Interview beschwerte sich der 88-jährige Mario Adorf darüber, dass er sich das moderne Theater nicht mehr anschauen könne. Es habe keinerlei Respekt vor den Originalen. Kennen Sie solche Anflüge kulturellen Ekels auch von sich selber?
Im Gegenteil. Ich bin immer interessiert an neuen Entwicklungen, wobei die Art experimenteller Inszenierungen, auf die Herr Adorf wahrscheinlich anspielt, auch eher in den 70ern und 80ern angesagt war. Junge Leute machen längst wieder Stücke in einem guten Sinne der Tradition. Das ist ein Beispiel für ein Verhaftetsein im Früher, das halsstarrig macht.
Was Sie in der Show auch aufs Korn nehmen?
Aber sicher, und zwar durch einen Text von Teresa von Avila, einer spanischen Mystikerin aus dem 16. Jahrhundert. Sie hat ein Gebet geschrieben, das ältere Menschen davor bewahren soll, zu halsstarrig zu werden. Darin heißt es: „Wir wollen nicht von früher sprechen.“, „Wir wollen uns nicht immer wiederholen.“ oder, am schönsten: „Wir wollen nicht von unseren Krankheiten reden, denn wir wollen die wenigen Freunde, die wir noch haben, auch erhalten.“
Wie schön!
Die Charakteristika des Alters sind seit 2000 Jahren gleich geblieben. Es gibt Leute wie Miles Davis, die ihr Leben lang für neue Entwicklungen offen bleiben oder Beispiele wie Mario Adorf, dessen Haltung ich als Regisseur nicht teile. Natürlich bleibt er einer unserer besten Schauspieler.
Selbst ich erwische mich schon dabei, über die Musik der Jugend den Kopf zu schütteln. Angesichts der asozialen Vulgarismen im aktuellen Hip-Hop oder der platten Phrasen in den Charthits fühle ich mich aber auch im Recht. Erliege ich heute demselben unfairen Gestus wie einst meine Eltern?
Wenn ich das so sagen darf: Ja. (lacht) Sie übersehen die Breite des aktuellen Spektrums. Es gibt Leute wie Samy Deluxe oder Eminem, die im Rap seit langem ganz wunderbare Dinge anstellen.
Das habe ich schon auf dem Schirm…
Am Broadway in New York spielen sie derzeit ein Musical namens „Hamilton“, welches die Mittel des Hip-Hops nutzt, um die Geschichte der amerikanischen Gründerväter zu erzählen.
Das wusste ich allerdings nicht.
Sehen Sie? Das Spektrum der Musik ist so groß geworden, dass selbst Menschen, die sich damit befassen, einzelne Facetten nicht mehr mitbekommen. Ich habe durch meine Lehrtätigkeiten das Glück, von meinen Schülern ständig mit neuen Einflüssen gefüttert zu werden.
Sie führen die Show im kleinen Rahmen sogar in Altersheimen auf. Wie läuft das?
Wir spielen dort einfach die Stücke unverstärkt zum E-Piano. Eines thematisiert augenzwinkernd das Gruselige und zugleich die Freude von Gymnastik im Heim. In diesem Rahmen fingen meine älteren Darsteller an, mit Gästen aus dem Publikum zu tanzen. Als wir uns nach der Show verabschiedeten, kam ein dementer Herr zu uns und bedankte sich für den Abend. Ihm liefen die Tränen über die Wangen, da er durch den Tanz das erste Mal seit langer Zeit wieder eine Frau berühren und Nähe spüren durfte. Das war unglaublich anrührend. Eine andere demente Dame beschwerte sich während der Show über eine unserer besten Sängerinnen: „Die kann ja gar nicht singen!“ (lacht) Dieses Reden außerhalb jeder sozialen Kontrolle, das die Demenz verursacht, ist ein Erlebnis.
Meine Erfahrung mit der Demenz von Verwandten hat mir bewiesen, wie wichtig es ist, im Leben statt Dingen lieber gute Erinnerungen zu sammeln. Sie bleiben erhalten wie emotionale Anker.
Wir haben ein Ehepaar im Ensemble, die gehen als Duo mit Gitarre in Altersheime und spielen in den Zimmern Volkslieder. Selbst die dementesten Bewohner können jede Zeile mitsingen. So tief geht das. Auf der Suche nach Texten stolperte ich über Max Frisch. Er schrieb über das Älterwerden: „Im Kopf sitzen immer mehr Löcher.“ Wir thematisieren die negativen Seiten des Alters, machen dann aber wieder eine Kehrtwendung ins Leichte, Tänzerische und Lebensfreudige. Oft stehe ich nach der Show am Ausgang und rede mit den Menschen. Das Schönste, was ich dabei höre, ist: „Dieses Erlebnis bringt mich wieder über meine Woche.“
Rock’n’Rollator Show | 6.1. Volksbühne am Rudolfplatz | 20.1. Haus der Springmaus Bonn | www.rocknrollatorshow.de
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