An einem kühlen Donnerstagabend stehen auf dem Apostelnplatz unzählige Zuckerpakete in gleichem Abstand zu einander. Das Zuckerfeld ist offen und nicht abgegrenzt. Die Zuschauer sind neugierig und irritiert. Warum sind da drei Dicke im Zuckerfeld? Ist das eine Demo gegen Zucker oder doch irgendwas mit Kunst?
Eine speckige Dame sitzt erhöht und strickt einen Schal aus Absperrband, auf welchem Begriffe aus dem Universum der Fettleibigkeit stehen. Eine andere üppige Frau gießt sich ein Bad aus Zucker ein. Ein birnenförmiger Basketball-Coach trainiert ein unsichtbares Team. Im Zuckerfeld laufen Megaphone im Loop und proklamieren: „Du fette Kuh!“, „Lasst mich doch essen was ich will!“ und „Immerhin ein hübsches Gesicht!“. Die ersten 45 Minuten agieren die Performer fast nur und sprechen kaum – Zeit, sich Gedanken zu machen.
Fettleibigkeit ist noch immer ein globales Problem. Dem Fortschritt von Medizin und Technik zum Trotz ist Übergewicht noch nicht aus unserer Gesellschaft verschwunden. Übergewicht polarisiert, stigmatisiert und provoziert. Angie Hiesl, die deutsche Performance-Künstlerin, die sich gerne in der Öffentlichkeit mit ihren Installationen austobt, hat sich im Rahmen des Festivals tanz nrw 17 diesmal dem Thema Übergewicht gewidmet, um auf die Ausgrenzung und das Leid der Fetttragenden hinzuweisen. Aus persönlichen Schicksalen entstand ein Performance-Projekt, in dem der üppige Körper von allen Seiten betrachtet werden darf: sinnlich und humorvoll, aber auch skurril und tragisch.
Die Passanten wirken noch immer irritiert. Manche lauschen den Worten des Basketball-Trainers, der selbst einmal ein schlanker Profispieler war. Seine Oma, die es immer gut mit ihm meinte und ihn mit Sahnetorte fütterte, sowie eine Sportverletzung und die Entfernung der Schilddrüse beendeten seine sportliche Karriere zunächst. Doch er gab nicht auf, blieb in Bewegung und ist nun Trainer für Kinder und Jugendliche und lehrt diese nicht nur schnelle Slides und Korbleger, sondern auch Disziplin, Fairness und Respekt.
Ása Ástardóttir – Arme so dick wie andere Beine hat sie und sie lässt das Fleisch ihrer Winkearme ungeniert wackeln, während die beim Shoppen vorbeilaufende Mittelstraßen-Schickeria wohl eher eine Schönheitsoperation in Betracht ziehen würde, um bloß nicht so auszusehen. Ein paar überschminkte Damen verziehen das Gesicht, andere machen großen Augen und hören zu. „Mollig ist perfekt!“, sagt die ihren zarten Busen mit Puderzucker berieselnde isländische Sängerin. „Alter, das ist voll gut, Mann!“, sagt ein junger Zuschauer. Dabei meint er nicht nur die Tatsache, dass da eine halbnackte vollbusige Frau in einer Wanne sitzt.
Die Statements der Akteure bewegen und machen die Diskriminierung der Dicken deutlich. „Wer sagt, was schön ist? Ich war bei keiner Abstimmung dabei, die festgelegt hat, dass ein Model-Foto auf Instagram nur dann Herzen bekommen darf, wenn zwischen den Beinen des Models die Sonne hindurch scheinen kann.“ Ása berichtet davon, dass sie keinen Bock mehr hat auf mollige Mode in Tarnfarben und Oma-Schlüpper in Schlammfarbe. Nein, sie trägt String und will keinen Teil ihrer Vagina verdecken. Ihr Bauch gehört zu ihr. Da gibt es nicht nur Arsch und Busen. Wenn alles groß ist, dann natürlich auch der Bauch. Asa isst gerne und sie will am Supermarkt-Band keine bewertenden Blicke mehr auf ihre Einkäufe sehen. Auf dem Apostelnplatz stellt sie sich trotz der Kälte mutig und schön den Blicken der Öffentlichkeit. „Ja, ich weiß ich bin ein großes Mädchen, ein dickes Mädchen, ein hässliches Mädchen?“ Die urbane Installation scheint im wahrsten Sinne des Wortes aufzugehen. Wie ein wendiger Hefekloß, so droppt auch Torsten Schierenbeck die letzten Bälle und sagt: „Wenn man im Flow ist, ist alles gut.“
„Fat Facts“ | R: Angie Hiesl, Roland Kaiser | 11.-13.5. 18 Uhr | Apostelnplatz | www.tanz-nrw-17.de | Eintritt frei
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