Anatomie eines Falls
Frankreich 2023, Laufzeit: 151 Min., FSK 12
Regie: Justine Triet
Darsteller: Sandra Hüller, Swann Arlaud, Milo Machado Graner
>> anatomieeinesfalls.de/
Von vielen gesellschaftlichen Themen durchdrungener Gerichtsfilm
Szenerie einer Ehe
„Anatomie eines Falls“ von Justine Triet
Ein Chalet in der verschneiten Berglandschaft nahe Grenoble: Die Schriftstellerin Sandra (Sandra Hüller) gibt einer Studentin ein Interview. Sandra trinkt Wein und ist offensichtlich eher an einem Gespräch als an einem Interview interessiert. Als von oben zunehmend laute Musik ertönt, bricht sie das Interview ab, denn die Musik ihres Mannes Samuel können die Frauen nicht übertönen. Die Studentin reist ab, Sandra geht nach oben in ihr Zimmer. Der gemeinsame, elfjährige Sohn Daniel geht zeitgleich mit dem Hund spazieren. Als er zurückkommt, liegt Samuel tot vor dem Haus, weit über ihm das geöffnete Dachfenster, aus dem immer noch die Musik ertönt.
In der Eröffnung von Justine Triets („Victoria – Männer & andere Missgeschicke“; „Sibyl – Therapie zwecklos“) neuem Film herrscht eine angespannte Ambivalenz zwischen überdrehter Heiterkeit und latenter Aggression. Es ist der Auftakt für eine fast dreistündige Analyse der Beziehung zweier Menschen zueinander. „Anatomie eines Falls“ ist vordergründig ein klassischer Gerichtsfilm. Ein Genre, dass vor allem in den 1950ern einige bekannte Werke hervorgebracht hat, angefangen bei „Rashomon“ von Akira Kurosawa im Jahr 1950 über „Die zwölf Geschworenen“ (Sidney Lumet, 1957) oder „Zeugin der Anklage“ (Billy Wilder, 1957) bis zu „Wer den Wind sät“ (Stanley Kramer, 1959) und „Anatomie eines Mordes“ (Otto Preminger, 1959), dessen Titel für Justine Triets Film Pate gestanden haben könnte. Alles Filme, die um die Frage nach der Wahrheit kreisen – und um die dazugehörigen Fallstricke: Denn man kann durchaus ohne zu lügen etwas Falsches sagen – wenn man es so wahrgenommen hat, weil man meint, dass es die Wahrheit ist, weil es die eigene Sicht der Dinge ist. Natürlich hat auch die Gesellschaft einen Einfluss darauf, was als Wahrheit gilt und dann im Folgeschluss richtig oder falsch ist.
Auch in der jüngsten Kinogeschichte haben sich wieder vermehrt Filme auf das Genre des Gerichtsfilms bezogen. In „Menschliche Dinge“ (2021) sieht man eine Gerichtsverhandlung und parallel dazu den Tathergang, jeweils aus der Perspektive der verschiedenen Beteiligten und Zeugen – so wie man es von dem Klassiker „Rashomon“ kennt. In „Saint Omer“, dem diesjährigen französischen Oscar-Beitrag, wird der Mord einer Mutter an ihrem Kleinkind erforscht. Aber nicht die Tat – die ist durch ihr Geständnis geklärt –sondern die sozialen Umstände, die dazu geführt haben. Nachdem der Film 2022 in Cannes Premiere feierte, wurde dort in diesem Jahr „Anatomie eines Falls“ erstmalig vorgeführt und erhielt am Ende den Hauptpreis, die Goldene Palme. Wie in „Saint Omer“ kommen auch in Triets Film während der Gerichtsverhandlung die Biografien und die Lebensumstände der beteiligten Personen zur Sprache und werden von allen Seiten beleuchtet – allen voran die des Opfers Samuel, der tatverdächtigen Sandra und schließlich auch die ihres gemeinsamen, seit einem Unfall sehbehinderten Sohns Daniel. Anders als in „Saint Omer“ steht das klassische Whodunit, also „Wer war‘s?“, die gesamte Zeit im Zentrum. Es kommen also die unterschiedlichsten Möglichkeiten in Frage: Hat Sandra ihren Mann getötet oder ist der Täter noch unbekannt? War es Mord, Totschlag, Selbstmord – oder vielleicht sogar ein Unfall?
Viele Möglichkeiten, die in der Gerichtsverhandlung durchgespielt werden und aufgrund von Beweisen und Indizien von Staatsanwalt und Verteidigung vorgetragen werden. Und trotz dieser spannenden, an einen Kriminalfilm erinnernden Szenarien verhandelt der Film so viel mehr als diese eine mögliche Tat. „Anatomie eines Falls“ handelt von einer Paarbeziehung, von Lebensentwürfen, von Enttäuschung und Empathie, von Vorwürfen und Verantwortung. Es geht auch um die unterschiedlichen Bilder, die eine Gesellschaft von Frauen und Männern hat, es geht um Medien und Ökonomie. Es geht nicht zuletzt auch um den Rechtsstaat. Wie der Film all diese Themen in die Handlung einwebt, ist ebenso großartig wie das Spiel von Sandra Hüller und der Neuentdeckung Milo Machado Graner als Sohn. Am Ende ist der Film gleichermaßen Gerichtsdrama, Gesellschaftsporträt und Szenerie einer Ehe.
(Christian Meyer-Pröpstl)
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