Dämonen und Wunder – Dheepan
Frankreich 2015, Laufzeit: 109 Min., FSK 16
Regie: Jacques Audiard
Darsteller: Antonythasan Jesuthasan, Kalieaswari Srinivasan, Claudine Vinasithamby
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Kraftvolles Flüchtlingsdrama
Kriegsschauplätze
„Dämonen und Wunder – Dheepan“ von Jacques Audiard
Ein Flüchtlingslager in Sri Lanka: Hier sucht sich die junge Yalini (Kalieaswari Srinivasan) das Waisenmädchen Illayaal (Claudine Vinasithamby), um gemeinsam mit dem Soldaten Dheepan (Jesuthasan Antonythasan) eine Zweck-Familie zu bilden. Der Kampf der Tamilen für einen unabhängigen Staat wurde von der Regierung ebenso brutal zerschlagen, wie die Liberation Tigers of Tamil Eelam – kurz LTTE oder Tamil Tigers – ihn zuvor in den 25 Jahren des Bürgerkriegs geführt hatten. Widerstandskämpfer wie Dheepan versuchen nun außer Landes zu kommen, denn die Regierung tötet reihenweise Mitglieder der LTTE, die auch im Ausland als terroristische Vereinigung gilt. Die Flucht kann ihnen daher nur als Zivilisten gelingen, getarnt als Familie. So kommen die drei nach Paris und landen nach ihrer Anerkennung als Asylanten in einem Vorort – eine Trabantenstadt, die allen Klischees der Banlieues entspricht: Eine heruntergekommene Hochhaussiedlung, in denen Drogengangs das Sagen haben.
Genres fließen zusammen
Jacques Audiard hat sich in den letzten Jahren als Meister der kraftvollen Inszenierung einen Namen gemacht. In seinen Filmen hat er Drama, Thriller und Sozialstudie vereint und immer wieder gezeigt, wie souverän er die Klaviatur des emotionalen Erzählens beherrscht. „Der wilde Schlag meines Herzens“ war ein ungewöhnlich gewalttätiges Pianistenporträt, „Ein Prophet“ ein komplexes Psychogramm einer Ganovenkarriere, und mit seinem letzten Film „Der Geschmack von Rost und Knochen“ hat er ein Melodram erschaffen, dem man keine Sekunde die gewagte Konstruiertheit der Story übel nimmt, sondern im Gegenteil die Mischung aus Pathos, Gewalt und Gefühl mit genauer Charakterzeichnung und Milieustudie feiert. In seinem neuesten Film „Wunder und Dämonen“, mit dem er in diesem Jahr erstmals die Goldene Palme in Cannes gewinnen konnte, vermengt er abermals auf scheinbar abenteuerliche Art Genres und Themen: Der Film ist gleichermaßen Flüchtlings- und Familiendrama, Gangsterfilm und Sozialstudie. Und wieder fließen die Genres in seiner Inszenierung zusammen, als gäbe es da überhaupt keine ästhetischen Brücken zu überwinden.
Audiard beobachtet mit ausdauerndem Blick, wie drei Menschen, die zufällig zusammengefunden haben, langsam in die Rollen wachsen, die sie zunächst nur behauptet haben. Dheepan, Yalini und Illayaal sind eine Zwangsgemeinschaft, denn nur die glaubhafte Behauptung, eine Familie zu sein, sichert ihnen ihr Bleiberecht. Dass aus dieser bürokratischen Lüge heraus wirkliche Bedürfnisse entstehen, spürt und zeigt zuerst die neunjährige Illayaal, die bald in ihren vermeintlichen Eltern Ersatz für ihre leiblichen Eltern sucht und, als ihre Gefühle nicht erwidert werden, ganz pragmatisch in Verhandlungen tritt: „Dann sei doch zu mir wie eine große Schwerster“, sagt sie zu Yalini, als die die Mutterrolle weit von sich weist, weil sie ihre ganz eigenen Ziele verfolgt, in denen ein Kind nicht vorgesehen ist. Ganz nebenbei verweist Audiard damit jede biologistische Feier der Familie als Keimzelle der Gesellschaft in ihre ideologischen Schranken. Dheepan wiederum ist hin- und her gerissen zwischen seiner Vergangenheit als Widerstandskämpfer der Tamil Tigers und seiner Rolle als Vater und Ehemann. In einer Szene sieht man, wie die Familie fast zu einer Normalität findet: Es herrscht sonntägliche Ausflugsstimmung und man zieht gemeinsam zum Tempel und einem anschließenden Picknick mit der tamilischen Community in Paris. Im Anschluss trifft Dheepan einen ehemaligen Kommandanten der LTTE. Schon bald spürt er, wie die Vergangenheit wieder Macht über ihn ergreift. Als Hausmeister gerät er in seiner Siedlung bald zwischen die Fronten der rivalisierenden Drogenbanden und erkennt schließlich, dass er nicht nur in seiner neuen Heimat wieder auf kriegsähnliche Zustände trifft, sondern selber immer noch den Krieg in sich trägt.
Wandlungsfähige Präsenz
Im Gegensatz zu seinen bisherigen Filmen hat Jacques Audiard in „Dämonen und Wunder“ die drei Hauptrollen mit Filmdebütanten besetzt: Kalieaswari Srinivasan als Yalini hat bislang nur im Theater gespielt, Jesuthasan Antonythasan als Dheepan kam tatsächlich als ehemaliger Kindersoldat der Tamil Tigers nach Frankreich und ist inzwischen als Schriftsteller bekannt, und die neunjährige Claudine Vinasithamby stand ebenfalls noch nie vor der Kamera. Sie alle führen den Zuschauer mit einer unglaublich wandlungsfähigen Präsenz durch die unterschiedlichen Inkarnationen ihres Daseins vom Flüchtlingslager in Sri Lanka bis zum unglaublichen Finale und den nicht minder überraschenden allerletzten Bildern des Films. „Dämonen und Wunder“ zeigt die geografischen, aber auch die kulturellen und emotionalen Strecken, die Flüchtlinge zwischen den verschiedenen Welten zurücklegen müssen. Eine Pflichtlektüre, nicht nur für besorgte Bürger.
Cannes 2015: Goldene Palme
(Christian Meyer)
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