Die Jagd
Dänemark 2012, Laufzeit: 111 Min., FSK 12
Regie: Thomas Vinterberg
Darsteller: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Annika Wedderkopp
>> www.diejagd-film.de/de/
Eskalation einer Mutmaßung
Hexenjagd
„Die Jagd“ von Thomas Vinterberg
Lucas (Mads Mikkelsen) steht mit 40 Jahren an einer Zäsur: Er ist frisch von seiner Frau geschieden, seinen Job als Lehrer hat er nach der Schließung der Schule verloren. Nun wohnt er alleine in seinem Haus und darf nach gerichtlichem Beschluss seine Frau nicht mal mehr anrufen. Seinen schon jugendlichen Sohn (Lasse Fogelstrøm) sieht er nur alle vierzehn Tage. Doch so schlecht stehen die Dinge nicht. Gerade hat er im Dorf eine Stelle als Kindergärtner angenommen. Seine attraktive Kollegin Nadja (Alexandra Rapaport) macht ihm deutliche Avancen, denen auch er nicht abgeneigt begegnet. Sein Sohn äußert den Wunsch, zu ihm zu ziehen, und die Chancen stehen nicht schlecht, dass dessen Mutter doch noch nachgibt. Und außerdem sind da die vielen alten Freunde im Dorf, mit denen er gesellige Abende verbringt, und auf die er sich verlassen kann. Wie fragil all diese Bindungen sind, erfährt Lucas, als ein vager Verdachtsmoment aufkommt, er habe sich im Kindergarten an Klara (Annika Wedderkopp), der Tochter seines besten Freundes Theo (Thomas Bo Larsen), vergangen.
Schleichendes Gift des Misstrauens
Dies ist kein Psychothriller und auch kein Kriminalfilm: Der Zuschauer weiß im Gegensatz zu den Figuren im Film von Anbeginn, dass Lucas unschuldig ist. Auch arbeitet Regisseur Thomas Vinterberg nicht mit genretypischen Spannungselementen. „Die Jagd“ ist betont schlicht erzählt und erinnert darin an Vinterbergs größten Erfolg. Der Däne reüssierte 1999 mit dem ersten Dogma-Film „Das Fest“. Zuvor hatte er mit 24 Jahren als jüngster Absolvent aller Zeiten sein Studium an der Dänischen Filmschule erfolgreich mit einem für den Oscar nominierten Kurzfilm abgeschlossen. Sein Langfilmdebüt „Zwei Helden“ von 1996 blieb hingegen recht unbeachtet. Vinterbergs Karriere präsentierte sich auch danach als ewiges Hin und Her in Bezug auf den künstlerischen und finanziellen Erfolg seiner Filme, und auch stilistisch überraschte Vinterberg – ähnlich wie der Dogma-Mitbegründer Lars von Trier – stets aufs Neue. Mit „Das Fest“ löste er die Dogma-Forderung nach Selbstbeschränkung und technischer Askese ein, der Nachfolger – das artifizielle Liebesdrama „It's all about Love“ – wirkte dazu wie eine Antithese. Mit „Die Jagd“ ist er ästhetisch nun wieder deutlich näher an „Das Fest“. Zwar gibt es hier keinen konsequenten Verzicht auf technische Mittel wie künstliches Licht, Filmmusik o.ä., aber der Grundton der Inszenierung ist sehr zurückgenommen. Vinterberg konzentriert sich ganz auf die Personen und ihr Handeln. Diese Fokussierung in der Beobachtung macht das schleichende Gift des Misstrauens, dass langsam aber sicher Lucas' Beziehungen zersetzt, umso plastischer spürbar.
Falschanschuldigung mit Kettenreaktion
Unwillkürlich erinnert man sich an Arthur Millers „Hexenjagd“, seine dramatische Bearbeitung der amerikanischen Hexenprozesse in Salem als Kommentar auf die McCarthy-Ära. Man denkt auch an Vinterbergs Landsmann Carl Theodor Dreyer, der 1943 mit „Tag der Rache“ einen in seiner Art stilistisch strengen, als Kommentar auf die deutsche Besatzung ausgelegten Film zur Hexenverfolgung drehte. Und schließlich erinnert man sich daran, dass sogar der für seine raffinierten Effekte und dramatischen Inszenierungen bekannte Alfred Hitchcock 1956 seinen Film „Der falsche Mann“ über eine Falschbeschuldigung in ungewöhnlich zurückgenommener Art ins Bild setzte. Thomas Vinterberg stellt sich mit seiner modernen Hexenjagd, die die Kehrseite einer für Missbrauch sensibilisierten Gesellschaft ist, in diese Tradition – und in seine eigene. Dass „Das Fest“ und „Die Jagd“ bis hin zum Titel künstlerische Raffinesse hinter die Geschichte zurückstellen, ist kein Zufall. Es gibt auch eine inhaltliche Nähe der beiden Filme, die „Die Jagd“ wie das Gegenstück zu „Das Fest“ erscheinen lässt. Während Vinterbergs früher Erfolg die Mühen zeigte, einen tatsächlichen Kindesmissbrauch innerhalb der Familie gegen das hohe Ansehen des Täters glaubhaft zu machen, verbreitet sich in seinem neuen Film eine Falschanschuldigung ganz ohne Mühe. Lucas kann nur hilflos zusehen, wie das Misstrauen langsam aber sicher alle seine sozialen Bindungen zersetzt. Auf den Vertrauensentzug reagiert er hilflos mit Trotz und Wut. Am Ende dieser Kettenreaktion bleibt kaum einer unschuldig – nicht einmal die Kinder, die so gerne als die personifizierte Unschuld gelten. Dagegen ist Lucas für Mads Mikkelsen eine ungewöhnlich friedliche und sympathische Figur. Bekannt geworden ist er durch die brachialen Werke des Dänen Nicolas Winding Refn („Pusher“, Walhalla Rising“), seinen Auftritt als Bond-Gegenspieler in „Casino Royale“ und die schwarzen Komödien „Dänische Delikatessen“ und „Adams Äpfel“. Wie in „Die Jagd“ spielte er in Susanne Biers Dogma-Film „Open Hearts“ oder ihrem Drama „Nach der Hochzeit“ vergleichbar ruhige, aber vom Schicksal gebeutelte Figuren. Mikkelsen trägt den Film mit seiner Performance ebenso wie die anderen Darsteller, darunter die fünfjährige Annika Wedderkopp. Ohne diese beeindruckend realistische Darstellung der Schauspieler könnte Vinterbergs ruhige Inszenierung ihre Wirkung nicht entfalten.
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