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Die purpurnen Flüsse
Frankreich 2000, Laufzeit: 105 Min., FSK 16
Regie: Mathieu Kassovitz
Darsteller: Jean Reno, Vincent Cassel, Nadia Fares, Dominique Sanda, Karim Belkhadra, Jean-Pierre Cassel, Didier Flamand, François Levantal, Francine Berge, Philippe Nahon

In Großaufnahme fährt die Kamera einen misshandelten Leichnam ab, an dem sich bereits Würmer zu schaffen machen. Ein Gewaltverbrechen ist geschehen, abgetrennte Hände und zahlreiche Schnittwunden zeugen davon. Nachdem die Kamera ihre Obduktion beendet hat, verharrt sie auf dem (geschlossenen) Auge des toten Mannes. Nach dem nun folgenden Schnitt rückt erneut ein menschliches Auge ins Zentrum der Kadrierung. Es gehört Kommissar Niémans (Jean Reno), einem Pariser Spezialermittler. Wir beobachten ihn, wie er sein Auto in Richtung des Leichenfundorts bewegt. Es wird nicht der einzige Mord bleiben, nicht der einzige entstellte Körper, den Niémans - und der Zuschauer - zu sehen bekommt. Das Sehen, in diesem Fall das Erkennen von Zusammenhängen, ist das erste zentrale Motiv des Films. Schon kurze Zeit später stellt sich herausstellen, das der Täter seinem Opfer die Augen entfernt hat, um anschließend die Höhlen mit saurem Regenwasser zu füllen. Dem zweiten Opfer wird der Killer Glasaugen einsetzen, die dritte Leiche werden gewaltsam herausgerissene Augäpfel kennzeichnen. Die Spur führt Niémans zu einer Eliteuniversität in Guernon, einem autarken Campusgelände inmitten der französischen Alpen. Schnell wird klar, dass es sich bei den Hochschulmitgliedern, Lehrenden wie Studierenden, um eine große Familie handelt, um einen intellektuellen Zirkel, der am liebsten unter sich bleibt, insbesondere, wenn es um die Fortpflanzung tradierter Normen und Körper geht. Ein zweiter Handlungsstrang führt ins zweihundert Kilometer entfernte Sarzac, wo es der junge Polizist Kerkerian (Vincent Cassel) mit einem Fall von Grabschändung zu tun bekommt. Die Gruft von Judith Herault, im Alter von zehn Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, wurde gewaltsam geöffnet, in ihrer ehemaligen Schule sind plötzlich sämtliche Unterlagen über Judith verschwunden. Kerkerian sucht Judiths Mutter auf, die sich nach dem Tod ihrer Tochter freiwillig ins Kloster zurück gezogen hat. Ein Hinweis der erblindeten (!) Frau führt den Ermittler ebenfalls nach Guernon. Räumliche Distanz, Isoliertheit, abgeschlossene Systeme. Das ist das zweite, vielleicht entscheidende Motiv des Thrillers, und Kassovitz und sein Kameramann Thierry Arbogast ("Das fünfte Element") finden hierfür immer wieder eindringliche Orte und Bilder. Neben dem Kloster zu vorderst die hermetisch abgekanzelte Universität, aber auch einsame Gletscherlandschaften, von der modernen Technik abgeschnittene Behausungen und nicht zuletzt die innere Abgeschiedenheit Niémans untermauern dieses Konzept. Die größte Schwierigkeit im nach wie vor boomenden Serienkiller-Genre besteht darin, neue Ansätze, Ideen und Konstellationen zu finden, Parameter, die man nicht schon hundertfach gesehen hat. "Die purpurnen Flüsse" setzt keine Meilensteine auf diesem Gebiet, vermeidet jedoch recht erfolgreich das Trampeln auf ausgetretenen Pfaden. Zwar gibt es das ein oder andere redundante Zitat, und man lässt mit einem älteren, desillusionierten Cop sowie einem jungen Heisssporn wieder Mal zwei gegensätzliche Charaktere aufeinander prallen, stellt aber deren Differenz nicht unnötig aus und räumt beiden Figuren ausreichend Raum ein, so dass sie übliche Standardisierungen erweitern, sich über genretypische Klischees erheben können. Niémans und Kerkerian gleichen in vielem ihren amerikanischen Kollegen und sind doch ganz anders. Sie sind greifbarer, näher am Leben, realistischer, falls solche Bewertungen bei Filmfiguren überhaupt zulässig sind.

(Dietmar Gröbing)

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