Nobody Knows
Japan 2004, Laufzeit: 141 Min., FSK 6
Regie: Hirokazu Kore-eda
Darsteller: Yuuya Yagira, Ayu Kitaura, Hiei Kimamura, Momoko Shimizu, Hanae Kan
Der Film spielt zum großen Teil in einer kleinen Wohnung in Tokio. Die beengende Atmosphäre des Films wird gleich zu Beginn auf die Spitze getrieben, wenn die Mutter Keiko mit ihrem ältesten Sohn Akira in eine neue Wohnung einzieht: Als sie die Koffer in der Wohnung öffnen, purzeln die beiden Kleinsten, Shigeru und Yuki, heraus. Die Mutter musste sie hineinschmuggeln, sonst hätte sie nicht die Wohnung bekommen. Die Zweitälteste, Kyoko, wird am Abend bei Dunkelheit hineingeschmuggelt. Von nun an müssen sie in der Wohnung bleiben. Die Mutter erklärt die Regeln: nicht laut schreien, nicht auf den Balkon gehen! Als die Mutter von einer ihrer längeren Unternehmungen nicht mehr zurückkehrt, sind die Kinder auf sich gestellt. Nur durch ihren großen Zusammenhalt meistern sie die Lage. Der japanische Regisseur Hirokazu KORE-EDA hat die Innenaufnahmen dieses Spiegelbildes der Raumbegrenzung in der überbordenden Großstadt Tokio mit einem kleinen Team in einer Drei-Zimmer-Wohnung gedreht und kommt damit sehr nah an die vier jungen Debütanten (beim Dreh waren die Kinder zwischen sechs und dreizehn Jahre alt, der Darsteller des Akira erhielt hierfür in Cannes die Auszeichnung als bester Darsteller). Diese Nähe zeigt sich auch in den Einstellungen: Der Film ist geprägt von statischen, aber sehr poetischen Naheinstellungen und Detailaufnahmen, die die Körper der Kinder, ihre Hände, ihre Füße, aber auch die sie umgebenden Gegenstände ihres Alltags, regelrecht abtasten. Diese Nähe wird nur in den Außenaufnahmen von Akiras Einkäufen für die Familie aufgegeben, in denen die Kamera betont distanziert bleibt. Da die Drehzeit mit der Zeitspanne der Handlung im Film identisch war, kann man nicht nur die gespielten Entwicklungen der Kinder minutiös nach verfolgen, sondern auch ihre tatsächliche biologische Entwicklung beobachten. Mit diesem 1:1-Ansatz ist dem Regisseur eine überaus genaue Langzeitbeobachtung, aber auch eine sehr sensible und intime Einfühlung in die Kinder vor der Kamera gelungen. Dieser Ansatz kommt eindeutig vom Dokumentarfilm. KORE-EDA ist tatsächlich ursprünglich Dokumentarfilmer. Mit Filmen über schwere soziale Themen - Sozialabbau, Aids, Selbstmord - ist er in den 90er Jahren in Erscheinung getreten, bevor er anfing, auch Spielfilme zu inszenieren. Auch den Spielfilmen merkt man die Genre-Herkunft des Regisseurs an. Eine ruhige, aufmerksame Beobachtungsgabe zeichnet seine Filme ebenso aus wie eine deutlich spürbare Anteilnahme. So ist auch der Spielfilm "After-Life"(auch "Wonderful Life") von 1999, der bereits in unseren Kinos zu sehen war, von einer deutlichen Zuneigung des Regisseurs für seine Protagonisten geprägt. Dort wird ein kleines Grüppchen in einem Gebäude empfangen und jeder zu seinem schönsten Erlebnis befragt. Die Personen sind, so erfährt man nach und nach, gerade gestorben und sollen den Moment ihres Lebens aussuchen, den sie als einzige Erinnerung mit ins Jenseits nehmen. Überaus freundliche 'Beamte' helfen ihnen dabei und erleichtern so den Übergang vom Leben in den Tod. Die Filme von KORE-EDA haben trotz der existentiellen Dramatik der Geschehnisse vor allem etwas Tröstliches. Zwar geschehen grausame Dinge - eben die grausamen Dinge, die zum Leben gehören - doch KORE-EDA verzaubert diese Ereignisse mit seinem behutsamen Inszenierungsstil, dem man meditative Qualitäten bescheinigen kann, in sinnhafte Ereignisse (der Zusammenhalt der Kinder), die Grund zu Hoffnung geben. Insofern ist Hirokazu KORE-EDA wohl ein durch und durch asiatischer Regisseur. Dass er die Bilder der Gewalt aber ausspart, sie gar nicht benötigt, und stattdessen in menschlicher Nähe und poetischen Bildern auflöst, macht ihn auch dort zu einem Außnahme-Regisseur. Er 'benutzt' die Darsteller und ihre Rollen nicht nur für seine Filme. In jeder Einstellung hat man das Gefühl, dass KORE-EDA, ähnlich wie die 'Jenseits-Beamten' in "After-Life", auch Sorge für sie trägt.
(Christian Meyer)
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