Red Rocket
USA 2021, Laufzeit: 128 Min., FSK 16
Regie: Sean Baker
Darsteller: Simon Rex, Bree Elrod, Suzanna Son
>> www.upig.de/micro/red-rocket
Ambivalente Einblicke in soziale Randbezirke
Mit Vollgas ins Chaos
„Red Rocket“ von Sean Baker
Mickey Saber ist am Arsch! Blaues Auge, nichts außer den Klamotten am Leib: ausgelatschte Schuhe, eine zerschlissene Jeans und ein Unterhemd. So sitzt er im Greyhound-Bus von L.A. nach Texas-City, einer desolaten Stadt, die zur Hälfte aus einer Raffinerie besteht. Die restlichen Kilometer vom Busterminal läuft er durch die Peripherie, entlang an kleinen Häuschen und dem Raffinerie-Gelände und hält zielsicher am schäbigsten Haus der nur spärlich besiedelten Straße. So zielstrebig er dorthin schreitet, so wenig wird er dort erwartet, erst recht nicht mit Freude. Es kostet ihn schon einige Penetranz und Überredungskunst, dass man ihm Einlass gewährt. Dort wohnt seine Ehefrau mit ihrer Mutter. Saber scheint ein Typ zu sein, der nicht zum ersten Mal verbrannte Erde hinterlässt. Saber ist übrigens Mickeys Künstlername, obwohl er kein Künstler im engeren Sinn ist. Und es ist ein sprechender Name: Saber heißt Säbel und ist bei einem Pornostar wie Mickey wohl eindeutig phallisch gemeint. Seine schon lange getrennt von ihm lebende Frau Lexi war auch lange im Pornogeschäft tätig – einst waren sie ein Dream Team in der Branche. Doch das ist an die 20 Jahre her. Sie nimmt nun Drogen und lebt von Sozialhilfe, er kurvt auf der Suche nach neuen Möglichkeiten mit einem klapprigen Rad die Straßen ab.
Regisseur Sean Baker, der meist mit Laiendarstellern arbeitet, begibt sich mit seinen realistischen Szenarien immer wieder in soziale Randbereiche – zu den Underdogs. Er hat sich auch nicht zum ersten Mal einen derart sexorientierten Background seiner Hauptfigur ausgesucht. Um genau zu sein: In fast allen seinen Filmen sind die Protagonisten Sexarbeiter oder Pornodarsteller. In „Prince of Broadway“ (2008) muss sich ein Zuhälter plötzlich mit einem Kleinkind herumschlagen, das ihm seine Ex als sein Kind überreicht. In „Starlet“ (2012) freundet sich eine Pornodarstellerin mit einer älteren Dame an, in „Tangerine L.A.“ (2015) beobachtet Baker einen transsexuellen Sexworker im Alltag und in „The Florida Project“ (2017) beobachtet er ein Kind, dass in einer öden Peripherie rund um Disney World mit einer Mutter aufwächst, die sich aus Verzweiflung prostituiert. Und nun begleitet er den abgestürzten Pornostar Saber, der mit Anfang vierzig vor dem Nichts steht. Aber Mickey ist ein Stehaufmännchen. Sogleich verspricht er, sich an der Miete der beiden Frauen zu beteiligen. Weil die Bewerbungsgespräche nicht so gut laufen, beginnt er wie damals auf der High School Gras zu verticken. Mit seiner Frau versteht er sich wieder gut, was dazu führt, dass Mutter und Tochter mit Mickey fast so etwas wie ein Familienleben haben. Doch als Mickey im örtlichen Donut-Shop die 17-jährige Raylee, genannt Strawberry, sieht, hat er sofort andere Pläne. Sie soll der neue Star im Porno-Biz werden, und er ihr Protegé. Doch dazu muss er sie erst verführen und vorgeben, mehr zu sein und mehr zu haben, als es aktuell der Fall ist. Dass all sein Treiben stets von seinem Narzissmus angetrieben ist merkt die Eine früher, die Andere später.
Für Simon Rex ist seine Hauptrolle in „Red Rocket“ als Mickey so etwas wie ein Comeback auf der Metaebene. Denn auch er hat wie Mickey im Pornobusiness angefangen. In den 90er Jahren hat er dann in etlichen Fernsehserien gespielt, seit den Nullerjahren war er auch im Kino zu sehen, zum Beispiel in dem Partyfilm „Project X“ oder mehreren Folgen des Meta-Horror-Francise „Scary Movie“. Auf You Tube findet man ihn auch in einer Mischung aus Rapper und Comedian. Auch letzteres bringt er trotz des schweren Themas mit seiner agilen Figur Mickey in Sean Bakers neuen Film ein. Er wirkt während der zwei Stunden Laufzeit wie dauerhaft auf Koks: Immer auf der Suche nach einem Ausweg aus seiner erbärmlichen Lage, spielt er sich und seiner Umgebung permanent etwas vor und bewirkt dadurch auf eigentümliche Weise auch bei seinen Mitmenschen einen Energieschub. Das Ergebnis seines manisch-getriebenen Handelns ist dadurch ambivalent, und auch Mickeys fiebrige Anspannung trägt zur Spannung des Films bei.
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