Tabu - Eine Geschichte von Liebe und Schuld
Portugal, Deutschland, Brasilien, Frankreich 2012, Laufzeit: 111 Min., FSK 0
Regie: Miguel Gomes
Darsteller: Teresa Madruga, Laura Soveral, Ana Moreira, Henrique Espírito Santo, Carloto Cotta, Isabel Cardoso
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Faszinierendes Spiel des Erinnerns
Der Glanz jener Tage
„Tabu“ von Miguel Gomes
Als der Portugiese Miguel Gomes auf der Berlinale 2012 für seinen dritten Spielfilm „Tabu“ den Alfred-Bauer-Preis entgegennahm, wirkte er etwas konsterniert, seine Freude war verhalten. Fast so, als hätte er den Goldenen Bären erwartet. Den vermeintlich arroganten Gesichtsausdruck erklärte er in seiner Dankesrede aber ganz anders: Er wunderte sich darüber, mit seinem altmodischen Schwarzweiß-Film einen Innovationspreis für neue Perspektiven in der Filmkunst gewonnen zu haben. Altmodisch mag stimmen – einerseits. Aber die Berlinale-Jury hat gleichermaßen recht.
Glanzlose Gegenwart
Als Vorspann von „Tabu“ sehen wir wirklich einen altmodischen Film. Ein Stummfilm mit Off-Kommentar erzählt von einer tragischen Liebesgeschichte mit einem mythischen Ende. „Das Herz ist der aufmüpfigste Muskel“, sagt der Erzähler über die Liebe der Protagonisten, die über den Tod hinausreicht. Es ist eine Frau aus dem Lissabon der Gegenwart, die sich diesen Film zu Beginn des ersten Teils von „Tabu“ im Kino ansieht – alleine. Pilar ist die Hauptfigur dieses ersten Teils, der mit „Das verlorene Paradies“ betitelt ist. Pilar ist eine alleinstehende Frau mittleren Alters. Über sie lernt der Zuschauer die verwirrte Nachbarin Aurora kennen. Als Aurora im Sterben liegt, fantasiert sie von Afrika und möchte einen gewissen Gian wiedersehen. Aurora stirbt, bevor dies möglich wird. Aber nach der Begräbnisfeier erzählt Gian Pilar und Santa von seiner gemeinsamen Vergangenheit mit Aurora.
„Aurora hatte eine Farm in Afrika am Fuße des Monte Tabu“. Mit diesem Satz beginnt Gian seine Erzählung und entführt den Zuschauer in ein bewegendes Melodram, das so gar nichts mit dem deprimierenden Dasein der verwirrten Alten in Lissabon zu tun hat. Die junge Aurora wächst auf dieser Farm auf. Als sie einen Deutschen kennenlernt, heiratet sie ihn, „weil er eine stattliche Figur hat“. Doch dann tritt Gian in ihr Leben, ein Abenteurer, der aus Europa geflohen ist und hier einen Neuanfang wagt. Er arbeitet auf dem Land und spielt in einer Band. Die beiden verlieben sich ineinander und treffen sich heimlich. Das Drama nimmt seinen Lauf … Nach exakt der Hälfte des Films beginnt dieser zweite Teil. Wie Gomes nun zwischen der deprimierenden Gegenwart der einsamen Frauen zu Auroras Liebesgeschichte in den 50er Jahren in Afrika überleitet, zeigt beispielhaft, wie seine ungewöhnliche Erzählkunst funktioniert: Gian, Pilar und Santa kommen in eine typische Shopping Mall. Im albern anmutenden Kontrast schleichen die Alten an einem Kiddie Ride-Automaten vorbei, um sich dann inmitten einer künstlichen Dschungelatmosphäre in das zentrale Café der Einkaufspassage zu setzen. Hier, zwischen Blumenkübeln mit tropischen Pflanzen und hässlichen Stühlen, beginnt Gian seine bewegende Afrika-Erzählung. Gomes arbeitet gerne mit solchen Kontrasten. Sowohl innerhalb des Bildes als auch zwischen Bild- und Tonebene.
Glänzende Vergangenheit
Wenn Gian ansetzt, seine Geschichte zu erzählen, ändert der komplette Film seinen Modus. Nicht nur verlagert sich die Handlung um 50 Jahre in die Vergangenheit und von Portugal nach Südost-Afrika in eine portugiesische Kolonie. Auch weichen die schärferen 35mm-Bilder der Gegenwartshandlung gröberen 16mm-Aufnahmen, die die dokumentarische Aura von Familienvideos verströmen. Entsprechend verschwinden die Dialoge. Der zweite Filmteil „Paradies“ ist zwar kein Stummfilm – Umgebungsgeräusche gibt es reichlich. Aber außer der Erzählstimme von Gian hört man keine Stimmen. Zwischen diesem Erzähltext und den Bildern entfaltet sich immer wieder ein Spannungsfeld. Vor allem, weil Gian im Kontrast zu den dokumentarisch anmutenden Bildern mit leicht antiquierter Blumigkeit erzählt. Trotz des exotischen Ambientes macht sich auch eine Melancholie vom Glanz vergangener Tage breit. Natürlich sieht und empfindet der Zuschauer das so, weil die Szenerie in der ersten Hälfte des Films so gar nicht glänzt. Portugals Status als Weltmacht ist schon lange Geschichte, wenn Aurora sich von Santa bedienen lässt, und auch die Machtverhältnisse zwischen den beiden Frauen sind eher unklar. Zwischen Portugals Kolonialzeit und der Gegenwart liegen fast 40 Jahre. Sie endete zeitgleich mit dem „Estado Nuovo“, der langen Diktatur des faschistischen Staatschefs Salazar, die erst 1974 mit der Nelkenrevolution überwunden wurde und nach über 10jährigen Kämpfen in Afrika zugleich das Ende der portugiesischen Kolonien ist.
Mit Widersprüchen und Kontrasten verschiebt Gomes die Vorzeichen seiner Erzählung dezent und entfaltet einen trockenen Humor, der seine Höhepunkte erlebt, wenn kleine Handlungen als Auslöser für einschneidende reale historische Ereignisse behauptet werden. Dass das, was wir sehen, eine subjektive Erzählung ist, bleibt dabei immer klar. Gians Erzähltext ist durch Einschübe und Erläuterungen als solcher stets kenntlich. Es ist seine subjektive Erinnerung, die Abweichung von den Bildern trägt dem Rechnung. Erinnern und Erfinden liegen nah beieinander, nicht nur in Auroras Altersdemenz. Erinnern hat immer eine Intention, heißt Deuten, Interpretieren. Und auch die Lüge ist dann nicht weit. Doppelbödig ist „Tabu“ in vieler Hinsicht.
Berlinale 2012: Alfred-Bauer-Preis
(Christian Meyer)
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