Winterschlaf
Türkei, Frankreich, Deutschland 2014, Laufzeit: 188 Min., FSK 6
Regie: Nuri Bilge Ceylan
Darsteller: Haluk Bilginer, Melisa Sözen, Demet Akbağ, Ayberk Pekcan, Serhat Kiliҫ
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Gesellschaftspolitisches Drama aus der Türkei
Passiver Zuschauer
„Winterschlaf“ von Nuri Bilge Ceylan
Türkei, Kappadokien: Ein Jeep fährt über eine holprige Piste, als plötzlich ein Stein die Scheibe durchschlägt. Ein Grundschüler flieht ins freie Gelände, aber der Fahrer kann ihn stoppen. Der Junge wollte seinen Vater rächen: Sein Vermieter hatte wegen hoher Mietrückstände die Gerichtsvollzieher geschickt. Der Hotelier Aydin (Haluk Bilginer) ist dieser Vermieter und er sitzt auf dem Beifahrersitz des Jeeps. Aus der aggressiven Auseinandersetzung mit dem Jungen und später mit dessen Vater hält er sich heraus. Er überlässt es seinem Hausmeister Hidayet (Ayberk Pekcan), den Konflikt zu klären.
Szenen einer Ehe
Tatsächlich hält sich Aydin in der Praxis gerne aus allem heraus. Für die Details des Alltags hat er Hidayet, der ihm den Rücken freihält. Der ehemalige Schauspieler braucht seine Zeit, denn er arbeitet an einem großen Werk über die Geschichte des türkischen Theaters. Zwar ist noch kein Satz geschrieben, aber Aydin verspricht sich viel von seinem Vorhaben. Außerdem schreibt er für eine regionale Zeitung eine Kolumne. Die Verbreitung ist nur gering, Aydin widmet sich den philosophischen und moralischen Fragen in seinen Texten aber mit großer Hingabe. Wo er sich im wirklichen Leben heraushält, mischt er sich mit seiner Kolumne ein. Nur bedingt beeindruckt davon sind seine viel jüngere Frau Nihal (Melisa Sözen) und seine Schwester Necla (Demet Akbağ). Erstere lebt in innerer Migration zu ihrem Mann und findet Erfüllung in Wohltätigkeitsarbeit für die örtlichen Kinder, Letztere liefert sich scharfe Diskussionen mit dem selbstherrlichen Aydin in dessen Studierzimmer. Als er in seiner überheblichen Art auch noch das Engagement seiner Frau kritisiert, steht er plötzlich ganz alleine da und gerät erstmals in sich Selbstzweifel.
Immer wieder gleitet die Kamera über die imposante Landschaft Kappadokiens, ihre Felsformationen mit unzähligen Höhlen. Der weiche Tuffstein hat die Bewohner der kargen Landschaft dazu verleitet, ganze Häuser in die Felsen einzuarbeiten. Sowohl die Mieter, mit denen er im Clinch liegt, als auch Aydin selbst leben in solchen Häusern. Aydins Studierzimmer gleicht tatsächlich einer Höhle, ausgestattet mit den Insignien des Bildungsbürgertums: Bücher in den Regalen, alte Bilder an den Wänden und auf dem Schreibtisch ein schickes Laptop. Das alles unterscheidet ihn von den ärmlich lebenden Menschen im Dorf, von denen er sich fernhält und denen er sich als moderner, säkularer Künstler intellektuell und moralisch überlegen fühlt. Wirtschaftlich ist er dank eines ordentlichen Erbes gut abgesichert. Sein Status hat ihn selbstgefällig werden lassen.
Regisseur Nuri Bilge Ceylan umkreist in weiten Linien das Umfeld von Aydin, um schließlich immer deutlicher den Konflikt zwischen ihm und seiner jungen, schönen Frau Nihal in den Fokus zu nehmen. Ceylan erzählt nicht zum ersten Mal von einem Beziehungskonflikt: In „Jahreszeiten“ (2006) nahm er ein Paar, das sich trennt, in den Blick. In „Drei Affen“ (2008) untersuchte er die Dreierkonstellation einer Familie, die nach einem Unglücksfall auf die Probe gestellt wird. Dabei ist das Kleine in den Filmen Ceylans immer Spiegel des großen Ganzen.
Zeitbilder
In „Winterschlaf“ gelingt Ceylan dieses Spiegelbild auf eindrucksvolle Art: Das Armuts- und Bildungsgefälle in dem riesigen Land zwischen Europa und Asien, der Konflikt zwischen Tradition und Moderne, das Verhältnis von Mann und Frau und die religiösen und ethnischen Konflikte finden sich in den Beziehungen und Gesprächen der Figuren in „Winterschlaf“ wieder. Aydins Diskussionen mit seinen Mietern, mit seiner Schwester oder mit seiner Frau sind der Kern des über dreistündigen Films. Seine langen Streitgespräche, führt er anfangs mit Überheblichkeit und Zynismus aus einer scheinbar sicheren Position eines ins Alter gekommenen Intellektuellen, der sich aus der konkreten Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Entwicklungen zurückgezogen hat. Die Dialoge hat Celyan wie bereits in seinen letzten beiden Filmen gemeinsam mit seiner Frau Ebru Ceylan geschrieben. Sie geben in feinen Nuancen die Gesprächs- und Denkkultur der Figuren wieder. Nuri Bilge Ceylan, zu dessen Vorbildern offensichtlich Michelangelo Antonioni, Andrei Tarkowski, Theo Angelopoulos oder Ingmar Bergman gehören und der das auch nie verheimlicht hat, macht Filme, die der französische Philosoph Gilles Deleuze im Gegensatz zum Bewegungs-Bild dem Zeit-Bild zugeordnet hätte. Nach Deleuze steht beim Bewegungs-Bild die Aktion der Protagonisten im Vordergrund, beim Zeit-Bild jedoch hat die Beobachtung Vorrang vor der Aktion. Nicht selten wird in solchen Bildern der Protagonist im Film selber zum Zuschauer der Geschehnisse. Die Einordnung des Protagonisten als passiven Zuschauer des Lebens könnte Aydin in seinem Elfenbeinturm kaum treffender beschreiben.
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