Ja, ich geb’s zu: Die Leute auf der Straße gucken mich blöd an. Könnte daran liegen, dass ich laute „Krah, krah, ack, ack“-Schreie ausstoße, sobald ein Vogel in mein Blickfeld kommt, der größer als eine Meise ist. Auch im Baumarkt rufe ich nicht mehr „SCHATZ?!?“, wenn ich Aufmerksamkeit will, sondern breite die Arme aus, drehe mich im Kreis, rucke mit dem schief gelegten Kopf und quietsche nach Leibeskräften. Wirkt immer und sofort, denn gegen Irrsinn hat keiner ein spontanes Mittel, außer einem Streicheln und einem: „Es wird alles wieder gut“. Ich habe Kakaduismus. So wie andere Leute eine „Avatar“-Depression bekommen, wenn sie beim gleichnamigen Kinofilm diese wunderschönen blauen Wesen in ihrer traumhaften Welt sehen und den Vergleich mit dem eigenen grauen Alltag nicht aushalten, so habe ich Kakaduismus. Ich bin süchtig nach dem Lebensdrang dieser Tiere, die Schönheit mit der Intelligenz eines dreijährigen Kindes kombinieren – und mit ebensolchem Benehmen.
Der Mensch an sich ist ja so drauf, dass er sich vor das Papageienviech setzt und immer, immer wieder die gleichen Worte wiederholt. Tagelang, wochenlang, geduldig oder genervt, mit und ohne Belohnungsnuss. Ist es dann so weit, dass das Tier einmal aus Versehen ein „Lora, Lora“ gluckst, triumphiert die menschliche Seele auf ganzer Linie: Hurra, er spricht mit mir, er hat mich wahrgenommen, oh Gott, der Vogel versteht mich! Und fleißig werden die nächsten Kunststückchen geübt. Heraus kommen dann semilustige YouTube-Videos mit technotanzenden Federbündeln oder Graupapageien, die ihr oktroyiertes „Du hast gepupst“ in alle Ewigkeit wiederholen. Wir sind erst zufrieden, wenn wir die Kreatur auf unsere Ebene gezogen haben.
Kühe sind zum Melken da, Rehe zum Streicheln, Bienen für deinen Honig – alles ist nur für den Menschen gemacht und wenn ein Tier einen anarchistischen Geist hat, muss man es zähmen. Dass das funktioniert, kann man sich vielleicht noch beim Durchschnittsdackel einbilden. Nicht aber bei den wahren Göttern, den Kakadus: Bei Missfallen schreien sie lauter als ein startender Düsenjet, sie zerlegen mit ihren hyperaktiven Schnäbeln während ihrer circa 60 Lebensjahre mit Leichtigkeit das Inventar mehrerer Häuser und ihre natürliche Frechheit versteckt sich nicht als Lausbubencharme. Man stelle sich vor, der Mensch würde auf gleiche Art, ebenso unverstellt, seinen Eigensinn, seine Selbstbezogenheit und Machtlust ausleben. Anstatt unsere Triebe zu verbrämen und unsere Kleingeistigkeit immer weiter zu verbreiten, lieber ein bisschen mehr Anarchie zulassen, die eigene Flügelspannweite ausprobieren und Grenzen ignorieren bis man halt irgendwo schmerzhaft anstößt – Versuch macht kluch. Laut sein, schamlos und eigensinnig, in jeder Situation probieren, wie weit man gehen kann, ohne automatische Selbstzensur. Mehr Kakaduismus für alle. Vielleicht entwickeln wir dann die innere Größe, andere Tiere nicht länger als rechtlose Objekte unseres Spiel-, Dressur- und Fresstriebs zu sehen, sondern als eigenständige Charaktere mit eigenen Bedürfnissen – das wäre eine echte Revolution. Lasst Kathedralen wachsen aus früchtetragenden Bäumen, lasst uns alle Tage schmatzend in ihren Astgabeln herumturnen. Und dann krakeelen wir laut und glücklich das Motto dieser Revolution: Käfig auf, Kralle drauf – sei wild und narrenfrei, ganz als wie ein Papagei. Denn der Irrsinn ist ohne Gegenmittel. Ack, ack.
TIERISCH GUT – Aktiv im Thema
bmt-tierschutz.de | Deutschlandweit tätiger Tierschutzverein, der sich gegen die in Zoos angewendete verbotene Praxis einsetzt, dass Tiere flugunfähig gemacht werden
wdsf.eu | Wal- und Delfinschutzforum sowie gemeinnützige Organisation zum Schutz von Meeressäugern
bornfree.org.uk | Tierschutzorganisation, die im Auftrag des Netzwerks ENDCAP unter anderem den EU Zoo Report mitveröffentlichte, der 25 deutsche Einrichtungen untersuchte
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@choices.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Nicht nur ein Film über Wale
Doku-Premiere „The Whale and the Raven“ im Cinenova – Foyer 09/19
Lebensfreude mit Tieren
Auch tierische Helfer haben Probleme – THEMA 06/17 TIERISCH GUT
„Die Qualität der Hundenase ist definitiv besser als alle Technik“
Hundetrainer Uwe Friedrich über Hundeerziehung und neue Fährten in der Krebsforschung – Thema 06/17 Tierisch gut
Tierische Überflieger
Hunde, Frettchen und Bienen tun Dienst am Flughafen Köln/Bonn – Thema 06/17 Tierisch gut
Spielend ins Verderben
Wie Personalmanagement das Leben neu definierte – Glosse
Ode ohne Freude
Gedanken zur EU – Glosse
Sinnenbaden im Meer
Ode an das Meer – Glosse
Blutige Spiele und echte Wunden
Gewalt in den Medien: Ventil und Angstkatalysator – Glosse
Gib mir Tiernamen!
Wie sich die Natur schwuppdiwupp retten lässt – Glosse
Nur die Lokomotive
Verloren zwischen Bett- und Lebensgeschichten – Glosse
Der heimliche Sieg des Kapitalismus
Wie wir vergessen haben, warum wir Karriere machen wollen – Glosse
Im Sturm der Ignoranz
Eine Geschichte mit tödlichem Ausgang – Glosse
Märchenspiegel 2.0
Vom Streben nach konformer Schönheit in feministischen Zeiten – Glosse
Von der Barbarei der Debatte
Natürlich kann man vermeiden, dass irgendwer Dinge hört, gegen die er allergisch ist – Glosse
Staatsmacht Schicht im Schacht
Mögen Körperflüssigkeiten den Parlamentarismus retten – Glosse
Neidischheit und Geiz und Reichheit
Die Reichen sind geizig und die Armen neidisch. Klare Sache? – Glosse
Der Beverly Hüls Cop
Warum Gewaltenteilung, wenn es nur eine Gewalt braucht? – Glosse
Gemeinsam einsam
Die Kunst, nebeneinander zu sitzen und Welten entfernt zu sein – Glosse
Besser erzählt
Vom verborgenen Kollektiv, das sich die Zukunft ausdenkt – Glosse
Die Große Freiheit
Menschen und die Grenzen des Wahnsinns – Glosse
Held der Arbeit
Wer sehr hart arbeitet, wird reich! – Glosse
Freiheitskampf zwischen LEDs
Widerstand in einer fast wirklichen Welt – Glosse
Zu Fuß zur Gerechtigkeit
Von Bahnen, die nicht fahren – Glosse
Glück auf Klick
Von digitalen Keksen und echter Pasta – Glosse
Scheiße, ich blute!
Ist die Geschichte der Menstruation voller Missverständnisse? – Glosse