„Wir behandeln eine schwer depressive Frau, die ihre Wohnung nicht mehr verlassen hat. Durch die Begegnung mit Eseln hat sie wieder Lebensfreude gewonnen. Jetzt kommt sie selbständig, sagt, was sie gerne machen würde“, erzählt Dr. Rainer Wohlfarth, Leiter des Instituts für tiergestützte Therapie Ani.Motion und Präsident der Europäischen Gesellschaft für tiergestützte Therapie. Die Idee, Tiere bei der Behandlung von Patienten einzubinden, hatte erstmals der amerikanische Kinderpsychotherapeut Boris Levinson. Ein Junge traf in der Praxis nach erfolgloser Behandlung zufällig dessen Hund, zu dem er ein liebevolles Verhältnis entwickelte. Dies förderte den Erfolg der Behandlung. Levinsons Buch „The Dog as a Co-Therapist“ bildete 1962 den Beginn der tiergestützten Therapie, die auch in Deutschland immer mehr Nachfrage erhält. So kommen Besuchstiere zu Demenzkranken, um deren biografisches Gedächtnis anzuregen. Ältere erinnern sich bei deren Anblick an Begebenheiten aus der Kindheit und fangen an, sich darüber zu unterhalten.
Besuchstiere können Hunde, Katzen, Kaninchen, sogar Hühner sein. „Wichtig ist, dass die Tiere nicht dazu gezwungen werden. Sie sollen entscheiden, ob sie auf den Menschen zugehen, sich streicheln lassen“, betont Wohlfarth und nennt als Beispiel Meerschweinchen in einer Basler Rehaklinik. „Umgekehrt wollen nicht alle Klienten Tiere anfassen.“ Durch den Körperkontakt wird das Hormon Oxytocin ausgeschüttet, das Glücksgefühle hervorruft. Mittlerweile werden in Altersheimen Roboterkuschelrobben eingesetzt. „Die haben positive Effekte, wenn sie mit Betreuung kombiniert und in das Pflegekonzept integriert werden. Jedoch haben Studien erwiesen, dass lebende Tiere besser sind wegen Körperwärme, Herzschlag und Interaktion“, erklärt der Diplompsychologe. Tiere allein heilen noch nicht, sie unterstützen den Logopäden, Ergo-, Physio- oder Psychotherapeuten bei seiner Arbeit, fungieren als Eisbrecher, wirken motivierend oder stressmindernd. Man spricht von Vorfeldfunktion. „Tiere werden nur im Rahmen der Grundprofession verwendet“, so Wohlfarth. „Der Therapeut entscheidet, wie und wo er ein Tier einsetzt.“
Von Therapietieren zu unterscheiden sind Assistenzhunde und Servicehunde für Menschen mit Handicap. So gibt es den Diabetiker-, Epilepsie-, Schlaganfall- oder Asthmawarnhund, LPF (Lebenspraktische Funktionen)-, PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung)-, FAS (Fetales Alkoholsyndrom)-, Mobilitäts- oder Demenzassistenzhund, Autismus- oder Signalhund und Blindenführhund. Die Tiere werden auf die Krankheitssymptome bzw. Bedürfnisse des Behinderten geschult: Gegenstände bringen oder aufheben, Hilfe holen, im Haushalt unterstützen, Licht einschalten, Schubladen und Türen öffnen, Einkaufstasche tragen, Fahrstuhl- oder Ampelknopf drücken. „Ein Diabetikerwarnhund kann am Atemgeruch eine Ketoazidose oder Unterzuckerung erkennen“, erklärt Wohlfarth. „Es werden vor allem Retriever verwendet, weil sie sozial verträglich sind.“ Anders als in Österreich sind in Deutschland die Rechte eines Servicehunds nicht gesetzlich geregelt. Ihm kann der Zutritt zu Krankenhaus, Kindergarten oder Supermarkt verwehrt werden. Es besteht die Forderung nach einem Gesetz, um Assistenzhunde in das Hilfsmittelverzeichnis aufzunehmen, den Schwerbehindertenausweis einzutragen und bundesweit einheitliche Standards zu schaffen. „Im Unterschied zu Österreich mit zwei, drei Verbänden gibt es in Deutschland viele kleine Verbände. Da wird die Gesetzgebung noch etwas dauern“, sagt Wohlfarth.
Dem Experten liegen tierethische Fragen am Herzen. „US-Studien besagen, dass Assistenzhunde eine kürzere Lebenserwartung haben, weil sie aufgrund ihrer Funktion oft Stress ausgesetzt sind. Wichtig ist, den Servicehund nicht zu stressen.“ Weil es bei der tiergestützten Therapie große Nachfrage, jedoch keine gesetzliche Definition gibt, herrscht Wildwuchs beim Angebot. Jeder kann ein Tier zu Therapiezwecken anbieten. Daher haben die Europäische Gesellschaft für tiergestützte Therapie und die International Society of Animal Assisted Therapy Standards für Theorie und Praxis erarbeitet. Kosten für Therapietiere sowie Ausbildung werden von Krankenkassen mehrheitlich nicht übernommen. Auch jenseits davon haben Tiere große Bedeutung für den Menschen. So ergab eine Umfrage, dass 84 Prozent ihr Haustier als wichtiges Familienmitglied betrachten. Für jeden Vierten ist es gar der wichtigste Bezugspunkt im Leben. Und jeder Zweite sucht bei seinem Haustier Ersatz für menschliche Nähe. Da fragt man sich, ob der Mensch auf den Hund gekommen ist.
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Aktiv im Thema
esaat.org | Verein, der die tiergestützte Therapie unterstützt und die Wechselwirkungen der Beziehung zwischen Mensch und Tier erforscht
tiergestuetzte-therapie.de | Unabhängiges Informationsportal, das Informationen zum Thema sammelt und dem Berufszweig mehr Anerkennung verleihen möchte
tiere-begleiten-leben.de | Internetauftritt des Freiburger Instituts für tiergestützte Therapie, das Aus-, Fort- und Weiterbildungen zum Thema anbietet
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