Heimat ist ein schönes Wort. Von der Kombination „Heimat und Tradition“ versprechen sich viele Funktionäre zumal in Zeiten der Globalisierung die Rückbesinnung auf alte Werte und mehr Stabilität in der Gesellschaft. Allerdings ist „Heimat“ auch ein höchst subjektives Gefühl und lässt viele Spielarten zu. Die Millionenstadt Köln zum Beispiel lebt vom Zuzug von immer mehr Menschen von außerhalb. Schon heute hat ein Drittel der Kölner Migrationshintergrund, deutlich weniger als die Hälfte der Hiesigen ist noch in der Stadt selbst geboren. Demografen und Trendforscher bestätigen diese Entwicklung auch für die Zukunft. Das macht mindestens die Stadtverwaltung froh, ist doch damit ein Teil ihrer Finanzen gesichert. Als Konsequenz dieser Trends scheint klar zu sein: Köln wird in Zukunft noch bunter, dazu heterogener und individueller. Natürlich wird das eine oder andere sich halten. Köln wird weiter als Metropole totale Spitze sein, auch wenn weiter weniger Kölsch getrunken wird und man stattdessen auf andere alkoholische oder nichtalkoholische Getränke ausweichen dürfte. Man wird auf jeden Fall weiter Karneval feiern, schließlich ist das Fest ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Allerdings dürfte die Zahl der traditionellen Brauchtumspfleger zurückgehen. Im traditionellen Karneval engagieren sich derzeit rund 20.000 Menschen. Bei den Alternativen von Stunksitzung bis Humba e.V. sind etwa 10.000 aktiv.
Schon heute kann man „Fastelovend och liere“, hat Ober-Jeck Markus Ritterbach vor kurzem bei der Vorstellung des „Festkomitees als Ausbildungsbetrieb“ betont. Im Gespräch ist auch, im Zuge der Mitgliederwerbung „Karneval als Plattform zur Integration“ ausländischer Bürger stärker zu nutzen. Interessant für Neue soll der Karneval als „riesige Kontaktbörse“ sein, etwa für den „positiv belegten Kontakt zu Interessenvertretern der Stadt“ oder zur „Pflege der Kundenbeziehungen“. Der Klüngel als Chance, zumal bei „ganzjähriger Organisation von Veranstaltungen“. Zusätzlich konstatiert man einen Trend zur „Eventisierung“, den Wunsch nach „Interaktion und Party“, den Siegeszug der Comedy und will die Marke „Kölner Karneval“ schärfen, auch wenn ein „strategisches Leitbild“ noch fehlt.
Es lebe Pempe Pazartesi!
Ein solches Leitbild tut Not, denn Menschen mit Migrationshintergrund sind selten Mitglied in Kölner Traditionsgesellschaften. Es gibt sie, aber wenn, dann „in relativ geringer Anzahl“ – so könnte man verschiedene Statements zusammenfassen. Dabei ist das Thema Migration durchaus ein Thema der Karnevalisten. Die Roten Funken zum Beispiel luden dazu sogar den Präsidenten der türkischen Handelskammer zur Diskussion. Zu den Mitgliedern des Korps gehören allerdings nur ein Italiener (Spitzname „Spaghetti“) und einige Niederländer. Ender Ermis dagegen ist bei der Nippeser Bürgerwehr aktiv. 2002 wurde er mit Unterstützung eines Freundes Mitglied. Inzwischen tanzt der WDR-Kameramann als Offizier der Truppe durch die Session. Dazu gehören auch schon mal Auftritte in den benachbarten Niederlanden. Zum Karneval kam er bereits als Kind. „Ich bin von meiner Ma immer zum Rosenmontagszug geschleppt worden“, erinnert er sich. Darüber hinaus soll in Köln sogar ein Funkemariechen mit türkischen Wurzeln aufgetreten sein. Der Karneval hat durch Menschen mit Migrationshintergrund freilich auch gelitten. Weil mittlerweile viele Migranten Taxis steuern, wurde die traditionelle „Sitzung der Taxifahrer“ nach Aschermittwoch eingestellt – zu wenig Interesse.
Anderswo ist man ein Stück weiter. Aykut Akköse zum Beispiel ist mittelständischer Bauunternehmer im westfälischen Beckum. Das wäre kaum eine Nachricht, wenn er nicht 2008 in seiner Heimatstadt zum ersten „türkischen Prinz Karneval“ in Deutschland gekürt worden wäre. Seitdem gibt es im Türkischen ein Wort für Rosenmontag. „Pempe Pazartesi“ heißt der Tag, der Begriff setzt sich aus „Rosa“ und „Montag“ zusammen. Türkischen Medien gilt Akköse seither als „Musterbeispiel der Integration in die deutsche Gesellschaft“. Er selbst empfindet sein Narrenengagement eher als „normal“, auch deshalb, weil er wie Ermis schon als Kind Jeck war. Akköse zeichnet auch für die „1. Türkische Narrenzunft Dortmund 09 e.V.“ verantwortlich, die er zusammen mit Gesinnungsgenossen gründete. Gegen den Widerstand eines Teils der lokalen Karnevalsfunktionäre durfte die neue Truppe im Rosenmontagszug der Biermetropole mitmarschieren. Für die Session 09/10 denkt man über einen eigenen Wagen nach, der einen überdimensionierten Döner darstellen soll.
Der Anstoß zur Vereinsgründung der türkischen Westfalen kam übrigens aus Köln. Hier hatten sich Anfang Januar drei Comedians als türkischer Karnevalsverein geoutet. Selbst ihre Forderung nach einer Türken-Quote im Karneval machte keinen der geladenen Pressevertreter misstrauisch. Jedenfalls wurde die Nachricht fast weltweit verbreitet. Einen Tag später folgte das Dementi: alles nur Werbung für eine RTL-Show. Begrüßt hatte die Vereinsgründung auch das Festkomitee Kölner Karneval. Ein Fehler, denn wirkliche Innovationen im offiziellen Kölner Karneval kommen eher aus Westfalen. Auch die „Lachende KölnArena“ wurde einst in Dortmund erprobt.
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