Zu Beginn ist nichts zu hören, dann steigen aus der absoluten Stille menschliche Atemgeräusche auf. Unmittelbar überträgt sich der Atemduktus auf die Zuhörenden und das Gehörte versetzt in die Innenwelt der Protagonistin. Die ekstatischen Äußerungen der Maria Maddalena de‘ Pazzi nehmen Gestalt in der Stimme an, die durch die Nonne spricht und sie verschiedene Heilige verkörpern lässt. Sciarrino entlehnt in seinem Libretto einzelne Sätze und Worte aus den Berichten der Mitschwestern über die Ausbrüche der Karmeliterin, die 1607 starb und 1669 heiliggesprochen wurde. Während ihrer Visionen sprach sie ungeheuerlich schnell und kaum verständlich, so dass vier Protokollantinnen den Text laut nachsprachen und vier andere eilig das aufschrieben, was sie davon mitbekamen.
Sciarrino sieht in diesen Visionen etwas Psychopathologisches und erkennt dahinter eine große Angst, die er in die Sprachklänge eines selbstvergessenen Sprechens fasst. Das eigentliche Drama ereignet sich nicht in einer äußeren Handlung, sondern im verinnerlichten Klang. Mit dem Ziel einer „Verinnerlichung des Theaters in die Musik“ schafft der Komponist einen neuen Gesangsstil, die „sillabazione scivolata“, eine gleitende Silbenartikulation. Ein lang gezogener Ton schwillt an und mündet in einer schnellen Abwärtsfiguration, die zwischen Singen, Sprechen und Stille wechselt.
Sciarrino kürzt die Textvorlage radikal, selten bleiben ganze Sätze übrig, Textfetzen bringen das sprunghafte psychische Erleben zum Ausdruck. In dem kammermusikalischen Instrumentalsatz für acht Musiker finden sich auch „Überschreibungen“ von existierenden Kompositionen, wie in fast allen Opernwerken Sciarrinos. Dabei nutzt der Komponist vielfältige Möglichkeiten, den Klang der Instrumente zu verfremden, so dass die Musiker unerhört filigrane Klänge erzeugen, die gerade im Stillstand ihr gewaltiges Spannungspotenzial entfachen. Er schreibe keine Musik, sondern psychologische Erfahrungen, sagt Sciarrino über sein Komponieren.
„Meine Werke sind nüchtern, das ist ein wichtiges Element, wenn man Musik hört... und das ist ihre einzige Möglichkeit unser Fleisch zu durchdringen und uns in der Tiefe zu erreichen“, sagt Sciarrino.
Wo zu sehen in NRW?
Oper Bonn | 26., 28., 29.9. je 20 Uhr | 0228 77 80 08
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Körperbilder und Kampfgeist
„Die Hand ist ein einsamer Jäger“ am Theater Bonn
Im Land der Täter
„Fremd“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 12/24
Tatort: Altarbild
„Tosca“ am Theater Bonn
Leichnam zu fairem Preis
„Glaube Liebe Hoffnung“ am Theater Bonn
Kampf gegen Windmühlen
„Don Quijote“ am Theater Bonn – Prolog 11/24
Den Schmerz besiegen
„Treibgut des Erinnerns“ in Bonn – Theater am Rhein 07/24
„Wir können nicht immer nur schweigen!“
Jens Groß inszeniert Heinrich Bölls Roman „Frauen vor Flusslandschaft“ am Theater Bonn – Premiere 06/24
Geschlossene Gesellschaft
„Flight“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 01/24
Mörderische Gesellschaftsstruktur
Georg Büchners „Woyzeck“ am Bonner Schauspiel – Auftritt 01/24
Der unfassbare Gott
Oper Bonn zeigt Arnold Schönbergs „Moses und Aron“ – Oper in NRW 12/23
„Ein interdisziplinäres großes Theaterhaus für die Stadt“
Die Dramaturgin Stawrula Panagiotaki übernimmt die Leitung der Studiobühne – Premiere 11/23
Nicht gerade familientauglich
„Frankenstein Junior“ an der Oper Bonn – Musical in NRW 10/23
Triumph der Güte?
„La Cenerentola“ in Essen und Hagen – Oper in NRW 12/24
Goldene Flügel der Sehnsucht
Großes biblisches Drama: „Nabucco“ an der Oper Köln – Oper in NRW 12/24
Unerwartet Kaiserin
„Der Kreidekreis“ in Düsseldorf – Oper in NRW 11/24
Besiegt Vernunft die Leidenschaft?
„Orlando“ an der Oper Köln – Oper in NRW 11/24
Horror und Burleske
Die Spielzeit 24/25 am Gelsenkirchener MiR – Oper in NRW 07/24
Opern-Vielfalt am Rhein
„Nabucco“ eröffnet in Düsseldorf die Spielzeit 2024/25 – Oper in NRW 06/24
„Kritische Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit“
Kapellmeister Hermes Helfricht über Werner Egks „Columbus“ an der Oper Bonn – Interview 06/24
Welt ohne Liebe
„Lady Macbeth von Mzensk“ am Theater Hagen – Oper in NRW 05/24
Die Gefahren der Liebe
„Die Krönung der Poppea“ an der Oper Köln – Oper in NRW 05/24
Absurde Südfrucht-Fabel
„Die Liebe zu den drei Orangen“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 04/24
Grund des Vergessens: Rassismus
Oper von Joseph Bologne am Aalto-Theater Essen – Oper in NRW 03/24
Täuschung und Wirklichkeit
Ein märchenhafter Opern-Doppelabend in Gelsenkirchen – Oper in NRW 02/24
Verpasstes Glück
„Eugen Onegin“ in Bonn und Düsseldorf – Oper in NRW 02/24