Sind wir nicht alle Schuldner? Wer kommt mit seinem Girokonto noch ohne Überziehungskredit zurande? Wer nutzt nicht, wenn irgend möglich, die Kreditkarte? Wer greift nicht bei größeren Anschaffungen für den gehobenen Alltag auf einen schnellen Bankkredit zurück, wenn man ihn denn bekommt? „Kauf jetzt, zahl später“ ist schon immer eine der großen Verheißungen gewesen, die allerdings von einem gewissen Unbehagen begleitet war. Die Ursache hierfür liegt im Kulturellen. Schließlich galt in christlichen Kreisen der Teufel als erster aller Darlehensgeber. Er bot Bargeld und Entertainment sofort und versprach, erst später die Seele seiner Geschäftspartner in Zahlung zu nehmen. Sein prominentester Schuldner war ein gewisser Dr. Faust. Doch schon die Altvorderen wussten, das eigentliche Problem ist nicht der Kredit, sondern dessen Tilgung. So gibt es denn auch den einen oder anderen Bericht, wie man den Teufel übers Ohr haute und sich so mit Geld und Seele davonstehlen konnte. Betrügereien bei Geldgeschäften erhielten so eine gewisse Weihe. Mittlerweile legen Banker Wert darauf, mit ihren Geschäften „Gottes Werk“ direkt zu betreiben und so „mehr Wachstum und Wohlstand“ zu generieren, wie es eben Lloyd Blankfein, Chef der global agierenden US-Investmentbank Goldmann Sachs hervorgehoben hat. Er will bis Jahresende noch einmal 20 Mrd. Dollar an Gottes Boni auszahlen.
Schuldnerkarrieren
Von solchen Summen können hierzulande viele noch nicht einmal träumen. In Köln sind 12,9 Prozent der über 18Jährigen privat verschuldet, was deutlich über dem Bundesdurchschnitt von 9,6 Prozent liegt. Die entsprechenden Schuldnerkarrieren lassen sich idealtypisch in mehrere Phasen aufteilen. In der Regel steht am Anfang eine Kreditaufnahme, wobei natürlich nicht jeder Kredit zur Überschuldung führt. Die Abwärtsspirale beginnt meistens mit einem unvorhersehbaren Ereignis wie Arbeitslosigkeit, einer Krankheit, einer Scheidung oder auch einer Mieterhöhung und einer Geburt. Auch Steuerschulden spielen eine Rolle, hier führen selbst Kleinstbeträge zur sofortigen Pfändung. Irgendwann folgt der Verlust der Kreditwürdigkeit und der Eintrag in ein Schuldnerverzeichnis wie der Schufa. Zu der ökonomischen tritt die psychische Belastung. Am Ende steht, wenn eine qualifizierte Beratung erfolgt, die Verbraucherinsolvenz. Betroffen von solchen Schicksalsschlägen sind überwiegend Menschen, die über keine oder nur geringe Rücklagen verfügen.
Einkommen wie Vermögen sind in Deutschland zunehmend ungleich verteilt. Die Hälfte der Bevölkerung verdient weniger als 800 Euro im Monat, zwei Drittel haben kein oder nur ein geringes Geld- oder Sachvermögen. Im Falle von Hartz IV muss auch das „aufgezehrt“ werden, bevor die staatliche Unterstützung eingreift. Seit 2002 sinken die geringen Einkommen übrigens ständig. Auch im mittleren Einkommenssegment stagnieren Vermögen und Einkommen. Steigerungsraten sind nur in den gehobenen Kreisen festzustellen. „Die Vermögen konzentrieren sich zunehmend bei den reicheren Gruppen der Bevölkerung“, lautet das Fazit einer aktuellen Untersuchung – Monatseinkommen hier zwischen 3.000 und 11.000 Euro. Dieses obere Drittel dominiert das gesellschaftliche Leben und die politischen Entscheidungen.
Schulden spielen auch bei den staatlichen Finanzen eine immer größere Rolle. Der Großteil der Staatsschulden wurde schon lange vor der Wirtschaftskrise aufgehäuft. Zu Sylvester 2008 hatten sie unglaubliche 1.64 Mrd. Euro erreicht. Im Laufe von 2009 stiegen sie noch einmal um gut 10 Prozent – der Banken und der Aufwendungen zum Erhalt „systemrelevanter Strukturen“ wegen. Prosit Silvester 2009. Ein Bundesland wie Thüringen bräuchte derzeit 183 Jahre, um seine aktuellen Schulden zu normalen Konditionen zu tilgen.
In der aktuellen politischen Debatte spielt denn auch die Tilgung gar keine Rolle. Stattdessen sind Steuersenkungen geplant, die dem reichen Drittel zugute kommen und die Staatsschulden noch einmal erhöhen. Dabei gibt schon der Name des neuen „Wachstumsbeschleunigungsgesetzes“ die Richtung vor: Der Glaube an den schnellen Turbokapitalismus lebt.
Selbstverständigung
Die Tilgung ist also nicht Teil der alltäglichen Politik, Steuersenkungen sind es schon. Um deren Legitimation kämpfen derweil beamtete Denker wie die Herren Sloterdijk, Bolz oder Bohrer. Auch wenn die Wirtschaftsweisen warnen, sehen diese Philosophen in Zeiten der Banken- und Finanzkrise nur die „Staatskleptokratie“ des modernen Sozialstaates am Werk, die es im Geiste der Freiheit zu bekämpfen gilt. Dem Prekariat, zu dem übrigens auch viele Kulturschaffende und Künstler gehören, soll Einhalt geboten werden – Leistung soll sich wieder lohnen. Ihre einfache Voodoo-Ökonomie „Steuern runter, Wirtschaft brummt“ ist allerdings noch nirgends aufgegangen. Im Resultat war stets weniger Geld in den öffentlichen Kassen. Auch sonst sind ihre Überlegungen so neu nicht. Vor vier Jahren hat etwa der CDU-Theoretiker Paul Nolte empfohlen, das damals als „soziale Mitte“ firmierende reiche Drittel müsse sich „als strategischer Akteur“ gegen die fortgesetzte Umverteilungspolitik zugunsten der Schwächeren wehren. Das dazu passende Bild einer Unterschicht, die sich „zunehmend auch kulturell gegen Aufstiegschancen und Aufstiegswillen“ abschottet, lieferte er gleich mit. Vielleicht hat Bundesbanker Thilo Sarrazin das Buch gelesen.
Hinter all dem Getöse könnte aber auch nur die nackte Angst stehen. In Krisenzeiten kann der „Virus der Deklassierung“ schnell auch Etablierte treffen. Aus Gläubigern können dann ganz schnell Schuldner werden.
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