„Ist ein Arzt hier?“, ertönt eine unaufgeregte Stimme im Konzertsaal. Das Orchester schwelgt just im Adagio, der Maestro lugt schon mal über die Schulter nach dem Störenfried. Wieder die Stimme: „Ist ein Arzt hier?“ – „Ja!“, antwortet jemand verhalten zehn Reihen vom Rufer entfernt. Die Stimme: „Ist das nicht ein wunderbares Konzert, Herr Kollege?“
Der Mensch will seinen Ohren allein nicht trauen, er möchte „zu zweit alleine sein“, wie es das alte Rheinlied anstimmt, um eine Bestätigung zu erhalten am besten von scheinbar kompetenter Seite. Und der Zuhörer ist nicht allein zum Hören angereist, er möchte auch seiner Begeisterung Luft verschaffen: mit Beifall, Applaus, Ovation, Klatschen, Jubeln. Damit gibt es im Klassikbereich häufiger Probleme.
In der Klassik hält der leider schon verstorbene Luciano Pavarotti den Applausrekord, der in diesem Falle – wie sonst üblich in der Oper – nicht in Vorhängen gemessen wurde. Rund 65 Minuten applaudierte das Berliner „Liebestrank“-Publikum, eine angemessene Menge „Brot des Künstlers“ für den rundlichen Nemorino. Dabei sind in der Klassik die wirklichen heiligen Momente die, wo absolut nichts tönt: Nach einem manchmal einstündigen Kampf durch Sinfonie-Sätze donnert der Schlussakkord, und die berühmte „atemlose Stille“ ergreift die ergriffen schweigende Hörgemeinschaft. Leider ist dies nur selten der Fall. Denn viele Konzertgänger entpuppen sich in genau diesem Moment als reaktionsschnelle selbstberufene Claqueure, die es nun allen zeigen können: Ich bin der begeistertste Hörer im Raum.
Das führt häufig zu Fehl- und Frühzündungen, besonders in den Fällen, wo die künstlerische Gestaltung dem Dirigenten spannungssteigernde Pausen nahe legt. Selbst in diesen nach Auflösung „schreienden“ Momenten schafften es bereits richtige Weltrekordler, drei-vier heftige Klatscher zu setzen. In diesen extremen Fällen verschlägt es allen die Sprache, die ganze Aufführung ist irgendwie versaut, das lässt sich nicht mehr reparieren.
Anders verhält es sich bei den Applaudierern aus Unwissenheit, die nach jedem Musikfetzen die Hände rühren. Sie werden bekanntlich dann mit bösen Blicken gestraft und weggezischt. Hier könnten neue Verhaltensregeln notwendig sein. Historisch gesehen wäre es kein Problem, denn zu Beethovens Zeiten wurde im Konzertsaal auch nach jedem Satz applaudiert, oft sogar Wiederholung gefordert. Das war zum einen der mehrstündigen Länge der Veranstaltung, zum anderen der klirrenden Kälte in den meist unbeheizten Räumen geschuldet. Heute lehrt besonders das Fernsehen den Dauerbeschuss mit enthusiastischen Begeisterungsausbrüchen und Kunstlachern. Peinlich sind die Satzunterbrechungen im Konzert deshalb, weil der tröpfelnde und dann verhinderte Applaus auch den Künstler vor das Problem stellt, den Jubel zur Unzeit zu ignorieren oder z.B. mit einer Verbeugung zu goutieren. Hier würde die Regel „alle oder keiner“ greifen. Keiner funktioniert nicht. Also mehr Toleranz im neuen Jahr, einfach mitmachen. Die Musiker werden es danken.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Zwischen Melancholie und Hoffnung
Das Klassik-Duo Hania Rani und Dobrawa Czocher im Stadtgarten – Musik 11/21
Ganz große Dramatik
Bonner Beethovenfest endet fulminant – Musik 9/21
Der Bürger als Flötenmann
Kölner Bürgerorchester in der Philharmonie – Klassik am Rhein 09/21
Virtuose Interpreten
Lucas und Arthur Jussen beim Klavier-Festival Ruhr – Klassik an der Ruhr 09/21
Geballte Power
Musikalischer Neustart in Köln – Klassik am Rhein 08/21
„Live-Konzerte sind unsere Raison d’être“
Generalmusikdirektor François-Xavier Roth über Chancen der Krise – Interview 07/21
„Musik ist Musik ist Musik“
Festivalleiter Ira Givol über die Zukunft der Alten Musik – Interview 06/21
Ein Chor im Lockdown
Virtuelle Gemeinsamkeit beim Kammerchor der Uni Köln – Klassik am Rhein 12/20
„Chöre sind wunderbare Musikvermittler“
Chefdirigent Nicolas Fink über den WDR Rundfunkchor – Interview 11/20
Mit Mozart aus der Krise
Regielegende Michael Hampe inszeniert „Die Zauberflöte“ – Oper in NRW 10/20
„Optimistisch in die Zukunft“
Stefan Englert, Geschäftsführender Direktor des Gürzenich-Orchesters über Lockdown und Planungen – Interview 09/20
Mit Harold durch Italien
Vor Corona: Letztes Konzert des Gürzenich-Orchesters in der Philharmonie – Konzert 04/20
Besuch aus Schweden
Nina Stemme singt Mahlers „Kindertotenlieder“ in Köln – Klassik am Rhein 03/25
Opernstar zum Anfassen
„Festival Joyce DiDonato & Friends“ in Dortmund – Klassik an der Ruhr 03/25
Ein absoluter Tenor
Michael Spyres in der Philharmonie Essen – Klassik an Ruhr 02/25
Von Heilern und Kindern
Abel Selaocoe in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 02/25
Zum Auftakt ein Höllentanz
Martynas Levickis mit „Best of Piazzolla“ in Essen – Klassik an der Ruhr 01/25
Die Feste feiern, wie sie fallen
Jan Lisiecki in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 01/25
Originelle Qualität
„Weihnachten mit Daniel Hope“ in der Philharmonie Essen – Klassik an der Ruhr 12/24
Friedenslieder zum Jahresende
„Silvesterkonzert – Bernstein & Gershwin“ in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 12/24
Aus Alt mach Alt
Tage Alter Musik in Herne 2024 – Klassik an der Ruhr 11/24
Sinfonische Vollender
Gil Shaham in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 11/24
Weiblicher Beethoven
Emilie Mayers 5. Sinfonie im Konzerthaus Dortmund – Klassik an der Ruhr 10/24
Ein Himmel voller Orgeln
Zwei Orgelfestivals in Köln und Düsseldorf – Klassik am Rhein 10/24
Mit virtuoser Blockflötistin
33. Festival Alte Musik Knechtsteden in Dormagen und Köln – Klassik an der Ruhr 09/24