Im Jahr 2001 verschlug es mich zu Heiligabend ins australische Brisbane, wo meine konfessionslose Wenigkeit zunächst am Spätnachmittag einen Gottesdienst aufsuchte, um im Anschluss in einem historischen Lichtspielhaus „Apocalypse Now Redux“ zu schauen: Ich zog zum Weihnachtsfest dem Duft der Tanne den Geruch von Napalm vor. Während andere daheim Zusammenhalt und Frieden (ver)suchten, gab ich mich andächtig dem Grauen hin, den Abgründen von Unfrieden und dem Wahnsinn unserer Spezies. So abwegig das klingen mag, so naheliegend ist es – schuf Coppola mit „Apocalypse Now“ doch, okkult gerahmt, durchaus eine Art Andacht und lud damit ein zu Reflexion, Einkehr und Erleuchtung. Ende letzten Jahres, über zwanzig Jahre später, liegt zur Weihnachtszeit Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ auf meinem Nachttisch – meine Adventslektüre 2023. Ich hatte mir den Roman spontan beim letzten Familienbesuch ausgeliehen. Der Besitzer des Buchs meinte, nach der Lektüre brauche man kein Buch mehr über den Krieg zu lesen. Ähnliches war mir durch den Kopf gegangen, nachdem ich in den 1980ern zum ersten Mal „Apocalypse Now“ gesehen hatte.
Edward Bergers Neuverfilmung von „Im Westen nichts Neues“ fuhr im letzten Jahr ganze vier Oscars ein – darunter als Bester Internationaler Film. Remarques Roman von 1929 gilt nach der Bibel als zweitmeist verkauftes Buch der Welt. Ein schonungsloses Werk über die Erlebnisse der Soldaten an der Front, über das Schweigen der Heimgekehrten, das kein Außenstehender jemals verstehen wird – auch nach der Lektüre dieses Romans nicht. Im Idealfall wird man aber ein Stück demütig. Umso mehr, wenn Remarque die zynische Politik und das Stammtischpalaver jener vorführt, die aus der Ferne kommentieren und lenken. Ein Buch, so sollte man meinen, das die Kraft hat, künftige Kriege zu verhindern – und eben daran kolossal scheiterte, nicht zuletzt dank staatlich verhängtem Verbot durch Mussolini, Hitler und Co. und anschließender Bücherverbrennung.
„Im Westen nichts Neues“, dieser Augenöffner über das Leben und Sterben in Schützengräben und Bombentrichtern schließt erschreckend nah den Kreis zum Krieg in der Ukraine. Statt Kampfgas greift man zwar nun zur Drohne, das meiste aber scheint vergleichbar – zumindest aus der Ferne auf dem Sofa oder im Kinosessel. Vergleichbar bleibt bis heute auch die Rhetorik von Politik und Stammtisch, von uns, die sich so meinungsstark wie ahnungslos für oder gegen Waffenlieferungen aussprechen. Die „Apocalypse Now“, „Im Westen nichts Neues“ oder auch aktuelle Filme aus dem Dunstkreis von Krieg und Faschismus wie „Green Border“ und „The Zone of Interest“ zwar feiern, aber nicht ernsthaft verinnerlichen. Vielleicht ist ein Kinofilm auch nicht nachhaltiger als ein Weihnachtsgottesdienst: Man nimmt mitunter mehr mit als man denkt, aber meistens weniger als man könnte.
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