Beinahe ihr ganzes Leben lang hat sich die alte Priorin darauf vorbereitet, schließlich vor ihren Schöpfer zu treten. Doch nun, da ihr Ende tatsächlich naht, bleiben nur noch Angst und Entsetzten. Der Glaube zerbricht an körperlichen Qualen und der Furcht vor dem Nichts. Die Novizin Blanche ist noch jung, aber sie kennt bereits diese tiefe existentielle Angst. Vor ihr flüchtete sie ins Kloster. Wird ihr Glaube stärker sein?
Regisseur Ben Bauer hat den inneren Kampf der angehenden Ordensschwester vor dem Hintergrund der Französischen Revolution in sehr ruhigen und eindringlich konzentrierten Bildern am Gelsenkirchener Musiktheater in Szene gesetzt. Komponist Francis Poulenc vertonte ihre Geschichte Mitte der 1950er Jahre als Oper „Dialogues des Carmélites“.
Auf den ersten Blick scheint es, man müsse schon sehr katholisch oder doch zumindest gläubig sein, um den Gewissenskonflikt der Blanche in vollem Umfang nachvollziehen zu können. Doch die Frage nach der elementarsten menschlichen Angst, jener vor der Auslöschung des Selbst, ist in Wahrheit universell.
Getrud von le Fort, deutsche Schriftstellerin von hugenottischem Adel, setzte der fiktiven Blanche de la Force 1931 mit ihrer Novelle „Die Letzte am Schafott“ ein literarisches Denkmal mit realem historischem Hintergrund: 1794 wurden während der Französischen Revolution die 16 Karmelitinnen von Compiègne auf der Guillotine hingerichtet, weil sie ihrem Glauben nicht abschwören wollten. Der Franzose Georges Bernanos griff den Stoff nach dem Weltkrieg wieder auf und brachte die Märtyrinnen auf die Theaterbühne und sogar ins Kino. Francis Poulenc schließlich komponierte auf dieser Grundlage seine Oper im Auftrag der Mailänder Scala.
Poulencs neoromantischer, impressionistisch eingefärbter Stil schien seinerzeit bereits aus der Zeit gefallen, bescherte dem Stück allerdings enormen Erfolg. Bis heute ragt seine betörende Tonsprache als eine besondere im Operngenre heraus.
Rasmus Baumann reizt am Pult der Neuen Philharmonie Westfalen die große Spannbreite von sehr zarten und intimen Momenten bis zu wuchtigen, scharfen Orchesterakzenten mit feinem Sinn für Details und Farbabstimmung aus. Beinahe für die gesamte Frauenriege im Gelsenkirchener Ensemble ist diese Oper ein Bravourstück. Bele Kumberger gehört zu den großen jungen Talenten des Hauses und singt die Blanche (in der rezensierten Aufführung krankheitsbedingt: Zinzi Frohwein). An ihrer Seite gibt Dogmin Lee mit leuchtend jugendlichem Sopran und fröhlicher Unbeschwertheit den Sonnenschein in düsterer Nacht. Noriko Ogawa-Yatake zeichnet als sterbende Priorin ein zutiefst erschütterndes Bild von Angst und Verzweiflung. Aber auch Petra Schmidt als ihre Nachfolgerin und Almuth Herbst als Mère Marie beeindrucken mit starker Charakterzeichnung.
„Dialogues des Carmélites“ | R:Ben Baur | 4.3. , 29.4. 18 Uhr, 9., 23.3. 19.30 Uhr | Musiktheater im Revier Gelsenkirchen | 0209 409 72 00
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Farbenfrohes Gespensterstück
Dijkema inszeniert „Hoffmanns Erzählungen“ in Gelsenkirchen – Oper in NRW 08/17
Unheimliche Schatten im Landhaus Bly
„The Turn of the Screw“ in Gelsenkirchen – Oper in NRW 10/16
Steampunks feiern ihre „welterste“ Oper
„Klein Zaches, genannt Zinnober“ mit Coppelius in Gelsenkirchen – Oper in NRW 05/16
Tosca im Schatten des Bösen
Tobias Heyder inszeniert Puccinis Opernkrimi in Gelsenkirchen – Oper in NRW 02/16
Knisternde Luft
Theater Hagen unter neuem Spardruck – Theater in NRW 12/15
Puck packt sich annen Kopp
Brittens „A Midsummer Night‘s Dream“ im MiR – Oper in NRW 12/15
Einer der schlimmsten Helikopterväter überhaupt
Intendant Michael Schulz inszeniert Rigoletto in Gelsenkirchen – Oper in NRW 06/15
Goldene Flügel der Sehnsucht
Großes biblisches Drama: „Nabucco“ an der Oper Köln – Oper in NRW 12/24
Triumph der Güte?
„La Cenerentola“ in Essen und Hagen – Oper in NRW 12/24
Besiegt Vernunft die Leidenschaft?
„Orlando“ an der Oper Köln – Oper in NRW 11/24
Unerwartet Kaiserin
„Der Kreidekreis“ in Düsseldorf – Oper in NRW 11/24
Horror und Burleske
Die Spielzeit 24/25 am Gelsenkirchener MiR – Oper in NRW 07/24
Opern-Vielfalt am Rhein
„Nabucco“ eröffnet in Düsseldorf die Spielzeit 2024/25 – Oper in NRW 06/24
„Kritische Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit“
Kapellmeister Hermes Helfricht über Werner Egks „Columbus“ an der Oper Bonn – Interview 06/24
Welt ohne Liebe
„Lady Macbeth von Mzensk“ am Theater Hagen – Oper in NRW 05/24
Die Gefahren der Liebe
„Die Krönung der Poppea“ an der Oper Köln – Oper in NRW 05/24
Absurde Südfrucht-Fabel
„Die Liebe zu den drei Orangen“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 04/24
Grund des Vergessens: Rassismus
Oper von Joseph Bologne am Aalto-Theater Essen – Oper in NRW 03/24
Verpasstes Glück
„Eugen Onegin“ in Bonn und Düsseldorf – Oper in NRW 02/24
Täuschung und Wirklichkeit
Ein märchenhafter Opern-Doppelabend in Gelsenkirchen – Oper in NRW 02/24
Unterschätzte Komponistin?
„Der schwarze Berg“ an der Oper Dortmund – Oper in NRW 01/24
Geschlossene Gesellschaft
„Flight“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 01/24
Der unfassbare Gott
Oper Bonn zeigt Arnold Schönbergs „Moses und Aron“ – Oper in NRW 12/23
Unheimlich ungelebte Geschichte
„Septembersonate“ an der Rheinoper Düsseldorf – Oper in NRW 11/23
Ein Schluck auf die Liebe
„Der Liebestrank“ an der Oper Köln – Oper in NRW 11/23