Werbung bestimmt immer penetranter das Antlitz unserer Städte. Egal ob Brause, Joghurt, Autos, Versicherungen oder Bier, von überall schreien einen die Botschaften an und kommerzialisieren den öffentlichen Raum. Seit kurzem gesellt sich zur bunten Warenpalette auch noch der Tod in Form des selbstbestimmten Sterbens. Mit dem Slogan „Mein Ende gehört mir“ wird die Legalisierung der Sterbehilfebegleitung gefordert. Prominente werben mit ihren Gesichtern seit Ende Oktober mit geschlossenen Augen auf Schwarz-Weiß-Fotografien. Darunter die Schauspieler Eva Mattes, Petra Nadolny, Michael Lesch, der Sänger Konstantin Wecker und viele andere.
Ebenfalls abgelichtet ist der ehemalige MDR-Intendant Udo Reiter, der seit 1966 nach einem Verkehrsunfall an den Rollstuhl gefesselt war. Reiter verpasste der Kampagne der „Deutschen Gesellschaft für humanes Sterben“ (DGHS) eine besondere Wende. Einen Tag vor der Präsentation der Plakate in Berlin erschoss sich Reiter mit einer Smith & Wesson auf der Terrasse seines Hauses bei Leipzig. Zu behaupten, sein Freitod sei ein Marketing-Coup gewesen, wäre geschmacklos. Doch diese Wirkung kann man seiner Tat nicht absprechen.
Laut einer Emnid-Umfrage im Auftrag des Nachrichtenmagazins „Focus“ wünschen sich drei Viertel der Deutschen die Sterbehilfe – vorzugsweise durch einen behandelnden Arzt. Während DGHS und Giordano-Bruno-Stiftung in die Offensive gehen, fand am 13. November im Bundestag eine erste Debatte zur Sterbehilfe statt – eine gesetzliche Regelung ist für Herbst 2015 geplant. Der Standpunkt der großen Mehrheit der Großen Koalition fasst Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) wie folgt zusammen: „Selbsttötungsbeihilfe darf keine Behandlungsvariante werden.“Andere interfraktionelle Abgeordnetengruppen sind hingegen für eine Liberalisierung der Sterbehilfe. Dabei ist die Hilfe beim Freitod längst Gang und Gäbe und kein Straftatbestand.
Besonders Vereine aus der Schweiz, wie Dignitas oder Exit, begleiten seit Jahren meist kranke oder alte Lebensmüde und besorgen ihnen tödliche Medikamentencocktails. In der Schweiz ist die Sterbebegleitung gesetzlich geregelt. Während Exit ausschließlich Schweizer oder Menschen mit Wohnsitz in der Schweiz beim Suizid unterstützt, wirbt Dignitas auch im Ausland für seine Dienstleistung. Exit nimmt 45 Franken Jahresbeitrag und zwischen 900 und 3500 Franken für die Freitodbegleitung. Dignitas hingegen verlangt einen Jahresbeitrag von 80 Franken. Die Sterbebegleitung kostet nochmals 10.500 Franken (ca 8750 €).
Eine besondere Form der Sterbehilfe bietet der ehemalige Hamburger Justizsenator und Ex-CDU-Politiker Roger Kusch an. Sein Verein „Sterbehilfe Deutschland“ (StHD) bietet Mitgliedern Sterbebegleitung in verschiedenen Versionen und zu unterschiedlichen Tarifen an. Die Spanne der Beiträge reicht von 200 bis zu 7000 Euro pro Jahr. Je höher jedenfalls der Betrag, desto eher wird einem bei der Selbstentleibung geholfen. Beim Ex-Rechtsaußen der CDU verkommt Sterbehilfe zur lukrativen Einnahmequelle.
Auf der anderen Seite ist die Lebensverlängerung durch die Apparatemedizin ebenfalls ein gigantischer Markt. Im Buch „Letzte Hilfe“ berichten Michael Schmidt-Salomon und Uwe-Christian Arnold über eine Patientin, die in einem Pflegeheim über 5 Jahre im Wachkoma gehalten wurde, was dem Heim einen zusätzlichen Umsatz von 200.000 Euro einbrachte.
In diesem Spannungsfeld zwischen Verbot, Vereinsgebaren und den zynischen Auswüchsen der Medizin verortet sich der Vorschlag einer Parlamentariergruppe um Bundestagsvizepräsident Peter Hintze und dem Kölner SPD-Abgeordneten und Gesundheitsexperten Karl Lauterbach. Sie treten für die Legalisierung der ärztlichen Suizidbegleitung ein. Mit ihrem Vorschlag wollen Hintze und Lauterbach vor allem dubiosen Sterbehilfevereinen und dem Sterbehilfetourismus in die Schweiz das Wasser abgraben. Andererseits ist das Zugeständnis an den Einzelnen über sein Ende selbst bestimmen zu können auch ein Bruch mit der zynischen Praxis, Leben – koste es was es wolle – künstlich zu verlängern. Entscheidend sei nur, so Lauterbach: „Wenn der Patient es nicht selbst tun kann oder will, sollte es auch kein anderer tun.“
Udo Reiter, der „Rock’n’Roller im Rollstuhl“ (Die Zeit), konnte und wollte. Eigentlich, so seine Vorstellung, sollte es ein Cocktail sein „der gut schmeckt und mich dann sanft einschlafen lässt“. Am besten unter ärztlicher Aufsicht, aber die wurde ihm in Deutschland verwehrt. Am Ende setzte der streitbare Reiter mit seinem einsamen und brutalen Männertod noch mal ein Ausrufezeichen.
Aktiv im Thema
www.dghs.de
www.dgpalliativmedizin.de
www.dhpv.de
Lesen Sie weitere Artikel zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und engels-kultur.de/thema
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Wir müssen die Sterbehilfe durch ‚Seriensterbehelfer' unterbinden"
Prof. Karl Lauterbach über seinen Vorschlag für den assistierten Freitod – Thema 12/14 Lebensende
Selbstoptimierung durch Freitod
Die Schweiz ist in der Freitoddebatte schon ein paar Schritte weiter – Thema 12/14 Lebensende
Es sind bloß Spiele
Teil 1: Leitartikel – Videospiele können überwältigen. Wir sind ihnen aber nicht ausgeliefert.
Werben fürs Sterben
Teil 2: Leitartikel – Zum Deal zwischen Borussia Dortmund und Rheinmetall
Das Spiel mit der Metapher
Teil 3: Leitartikel – Was uns Brettspiele übers Leben verraten
Demokratischer Bettvorleger
Teil 1: Leitartikel – Warum das EU-Parlament kaum etwas zu sagen hat
Europäische Verheißung
Teil 2: Leitartikel – Auf der Suche nach Europa in Georgien
Paradigmenwechsel oder Papiertiger?
Teil 3: Leitartikel – Das EU-Lieferkettengesetz macht vieles gut. Zweifel bleiben.
Friede den Ozeanen
Teil 1: Leitartikel – Meeresschutz vor dem Durchbruch?
Vom Mythos zur Mülldeponie
Teil 2: Leitartikel – Wie der Mensch das Meer unterwarf
Stimmen des Untergangs
Teil 3: Leitartikel – Allen internationalen Vereinbarungen zum Trotz: Unsere Lebensweise vernichtet Lebensgrundlagen
Zu Staatsfeinden erklärt
Teil 1: Leitartikel – Der Streit über Jugendgewalt ist rassistisch aufgeladen
Der andere Grusel
Teil 2: Leitartikel – Von der rätselhaften Faszination an True Crime
Maßgeschneiderte Hilfe
Teil 3: Leitartikel – Gegen häusliche Gewalt braucht es mehr als politische Programme
Die Masse macht’s nicht mehr
Teil 1: Leitartikel – Tierhaltung zwischen Interessen und Idealen
Wildern oder auswildern
Teil 2: Leitartikel – Der Mensch und das Wildtier
Sehr alte Freunde
Teil 3: Leitartikel – Warum der Hund zum Menschen gehört
Durch dick und dünn
Teil 1: Leitartikel – Warum zum guten Leben gute Freunde gehören
Von leisen Küssen zu lauten Fehltritten
Teil 2: Leitartikel – Offene Beziehungen: Freiheit oder Flucht vor der Monogamie?
Pippis Leserinnen
Teil 3: Leitartikel – Zum Gerangel um moderne Lebensgemeinschaften
Sinnvolle Zeiten
Teil 1: Leitartikel – Wie Arbeit das Leben bereichern kann
Verfassungsbruch im Steuer-Eldorado
Teil 2: Leitartikel – Die Reichsten tragen hierzulande besonders wenig zum Gemeinwohl bei
Über irrelevante Systemrelevante
Teil 3: Leitartikel – Wie Politik und Gesellschaft der Gerechtigkeitsfrage ausweichen
Angst über Generationen
Teil 1: Leitartikel – Wie Weltgeschehen und Alltag unsere Sorgen prägen
Keine Panik!
Teil 2: Leitartikel – Angst als stotternder Motor der Vernunft