Mittwoch, 9. April: Das Internationale Frauenfilmfestival Köln | Dortmund fand 2014 wieder in Köln statt, wo sich an den sechs Festivaltagen an den vier Kinospielstätten auch wieder zahlreiche FilmemacherInnen einfanden, um gemeinsam mit den Zuschauern im Anschluss an die Projektionen über ihre Arbeiten zu diskutieren. Der Länderschwerpunkt, den Betty Schiel verantwortlich betreute, wurde in diesem Jahr auf die Türkei gelegt. Gemeinsam mit Kuratorin Emel Celebi betonte Schiel gleich zu Beginn des Festivals, dass die meisten der ausgewählten Filmbeiträge auf die eine oder andere Weise Bezug nähmen auf die jüngsten Unruhen in der Türkei. Bevor am frühen Abend des Festivalmittwochs im Filmforum der neue Film von Deniz Akçay Katıksız, „Köksüz“ (Nobody’s Home/Keine Wurzeln), gezeigt wurde, der die Hilflosigkeit einer ganzen Familie auf eindringliche Weise widerspiegelt, lief als Vorfilm noch der bereits 2006 entstandene „Boreas“ von Belma Baş, der in meditativen Bildern über die menschliche Vergänglichkeit philosophiert.
Vor der Projektion des Hauptfilms wies Deniz Akçay Katıksız, die ihren Film persönlich in Köln vorstellte, schon darauf hin, dass „Köksüz“ ein „ziemlich hysterischer Film“ sei, der den Zuschauern hoffentlich gefallen wird. Die Hysterie in der Familie um die allein erziehende Nurcan, ihre erwachsene Tochter Feride und die beiden Teenager-Kinder Ilker und Özge, beschränkte sich allerdings auf die einleitenden Szenen. Je weiter die Handlung voranschritt, desto ernster wurde der Ton des Films, desto tiefer tauchte das Publikum ein in die ausweglose Situation der Protagonisten. Beim anschließenden Publikumsgespräch betonte die 1981 in Izmir geborene Filmemacherin, dass die Familie auch mit dem Vater nicht glücklicher gewesen wäre. Bereits 2009 hatte sie das Drehbuch zum Film geschrieben, die erste Szene des Films, in der Ilker zusammen mit seiner jüngeren Schwester Özge ohne Führerschein das Auto der Mutter stiehlt, wäre auch die erste Szene gewesen, die die Regisseurin zu Papier gebracht habe. „Die Mutterfigur ist in der Türkei ein fast schon heiliges Rollenmodel, sie opfert sich selbst für die Familie auf“, so Deniz. In ihrem Film wollte sie nun zeigen, dass auch eine Mutter keine heldenhafte Supermann-Figur ist, sondern eine Person mit ganz eigenen Problemen, mit denen sie zurechtkommen muss.
In der Türkei sei es ganz selbstverständlich, dass man kein eigenes Apartment bewohnt, solange man noch nicht verheiratet ist. Deswegen lebt die 32-jährige Feride im Film auch noch mit ihren jüngeren Geschwistern und der Mutter zusammen unter einem Dach. „Auf unterbewusste Art ist Feride mit ihrer Mutter verheiratet. Nun endlich einen Mann zu finden und diesen zu heiraten, ist für sie die Flucht aus diesem Irrsinn“, kommentierte die Regisseurin. Die ebenfalls im Publikum anwesende Filmemacherin Beth B., deren Neo-Burlesque-Dokumentarfilm „Exposed“ direkt im Anschluss gezeigt wurde, gratulierte Deniz Akçay Katıksız zu ihrem Film und dem Mut, auf ein Happy Ending verzichtet zu haben: „Das ist ein sehr universelles Porträt einer Mutter, das über den türkischen Hintergrund weit hinausgeht“, lobte die Kollegin. Für „Köksüz“ konnte die Regisseurin schon einige internationale Preise gewinnen, davon auch zwei beim Internationalen Filmfestival von Istanbul. Nichtsdestotrotz wären ihr gerade aus konservativen Kreisen auch negative Reaktionen entgegengeschlagen, da viele Zuschauer die Sexszene zwischen Ilker und der Mutter seines Klassenkameraden nicht akzeptieren konnten. Wegen dieser Szene erhielt ihr Film in der Türkei auch lediglich eine Freigabe „ab 18 Jahren“, was die Regisseurin als demütigend empfand. Obwohl der Akt visuell zurückhaltend in Szene gesetzt wurde, führte die Tatsache, dass der Junge noch minderjährig ist, zu dieser Freigabeentscheidung.
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