„Wenn Sie die Möglichkeit hätten, etwas aus der Vergangenheit, aus Ihrer persönlichen Biografie oder aus der Geschichte der Menschheit, das uns oder Sie belastet, zu erlösen – was wäre das?“ Diese Frage bekommt jeder Zuschauer beim Eintritt in Daniel Schüßlers utopische Höhle überreicht. Die spontan hingekritzelten Antworten tackert der Regisseur in der Mitte des aufwändig gestalteten Bühnenraums an ein Kreuz, während sich das Publikum rundherum zum Sit-in im stilisierten Wald aus weißen Baumgerippen niederlässt, das Düsseldorfer Klangkollektiv „weltAusstellung“ live Dschungelgeräusche und Musikpassagen zu einem hypnotischen Soundteppich verwebt und lächelnde Menschen mit Blumenkränzen Kokos-Curry-Suppe und Kölsch verteilen. Die irritierende Mischung aus einlullender Wellnessstimmung und wachrüttelndem Inhalt zieht sich durch den Abend, den das Analogtheater als „Sehnsuchtsparty für Heimatlose“ untertitelt. Partygerecht überwiegt der Fun-Faktor, wenn ein Tänzer im Superman-Diktatoren-Kostüm auftritt, eine Schauspielerin bei ihrer Weltschmerz- und Wutrede immer mehr ins Lamento gerät und der Gastgeber mit Heliumstimme ins Mikro albert, bis er sich selbst zur Ordnung ruft: „Jetzt muss ich aber politisch werden!“
Richtig, schließlich war Lessings Trauerspiel „Philotas“, in dem ein Königssohn aus Patriotismus Selbstmord begeht, der Ausgangspunkt für die große Frage des Stücks: Wofür würden wir heute maximal unser Leben opfern? Auch wenn man in anderthalb Stunden performativem Nachdenken keine Antwort erwartet – mehr als Seitenhiebe auf die neue Spießigkeit inklusive Marmeladeeinkochen, witzige Filme über spirituelle Absurditäten oder Meese-mäßige Hakenkreuzgags wären in Zeiten von Terrorismus und Radikalismus vielleicht doch drin gewesen. So bleibt die bunte, etwas formlose Collage vor allem eine unterhaltsame Veranstaltung, in der das etwaige Unbehagen über eine Ü-30-Generation zwischen hilfloser Sinnsuche und Nabelschau durch Gelächter und die Ermunterung zum Weiterfeiern erlöst wird. Nachdem die Belastungen der Vergangenheit und Gegenwart am Ende eines dionysischen Umzugs in Flammen aufgehen, warten schon das Bier und die Tanzfläche.
„Being Philotas“ von Analogtheater | R: Daniel Schüßler | studiobühne Köln | 13.-17.11. 20 Uhr | www.studiobuehne.uni-koeln.de
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