Der Saal mit den hohen Bogenfenstern ist komplett abgedunkelt, das Publikum schiebt sich vorsichtig und nuschelnd vor. Eingenommen von einem Quadrat, welches durch Neonröhren umrandet seine Gestalt bekommt. Die Neonröhren sind nicht grell, sie sind gerade mal so erleuchtet, dass die neugierigen Gäste sich nicht gegenseitig umstoßen. Auf einer Gummimatte stehend, macht sich ein rhythmischer Klang bemerkbar. Man schaut sich um. Der sich wiederholende Laut erinnert an Schulsport. Fünf schwarz angemalte PerformerInnen (Demolition Inc.) bewegen sich, aneinander festgehalten, langsam durch die Menschen, die gespannt ihren Blick auf die kleine Gruppe heftet – unaufhörlich achtsam.
„Steht Schwarz immer noch für das Unbekannte, den Ursprung und die Dunkelheit?“ Dieser Frage geht der brasilianische Choreograf Marcelo Evelin nach. In seiner Performance „Suddenly Everywhere Is Black With People“ involviert der Choreograf das Publikum in seine Arbeit. Er bestimmt die Beziehung neu: Das Publikum schaut nicht einfach zu, es bekommt eine Handhabe zur Teilhabe.
Der Performer und Forscher eröffnete an diesem Freitagabend in der Orangerie – Theater im Volksgarten das Festival für performative Künste: Urbäng! Interessierte und Involvierte kennen das Ensemblenetzwerk, namentlich die Freihandelszone, bereits. Bis letztes Jahr hat sie zehn Jahre lang das Festival Globalize:Cologne ausgerichtet. Nun gönnt sie sich einen Neuanfang, denn „Eine neue Weltordnung und ein neues Europa kündigen sich an. Die Arbeitswelt wird durch die vierte industrielle Revolution – die Digitalisierung – auf den Kopf gestellt. Besonders für Köln stellt sich die Frage nach der Stadt von morgen – nach der Stadt, die rasant wächst und in der wir auch morgen noch leben wollen, in der sich Lokales und Globales verbinden. Lieb Gewordenes fliegt mit einem lauten Knall auseinander“ oder um es so zu formulieren, wie die beiden Freihandelszoner Jörg Fürst und Stefan Kraft zur Einführung des Abends: „Internationalisierung und Globalisierung sind mittlerweile Teil der Alltagswirklichkeit, wir haben uns entschieden, den Fokus stärker auf das Thema Stadtentwicklung zu lenken. Wie wollen wir leben? Wir wollen unseren Beitrag durch pointierte Positionen der darstellenden Kunst leisten.“
Der Eröffnungsabend ist ausverkauft. Mehr Besucher dürften es im Quadrat bei Evelin nicht sein. Die PerformerInnen bewegen sich immer schneller durch die Masse. Dabei entsagt sie sich einander und nimmt mehr Raum ein. Der Musiker, ebenfalls schwarz angemalt, sitzt außerhalb des Quadrats und unterstützt den Tanz mit sphärischem Sounddesign. In der Masse ist immer wieder Gekicher zu hören, die Unsicherheit ist spürbar. Es ist warm und riecht nach Turnhalle. Vielleicht Angstschweiß? Es wird still. Die Gruppe steht eng umschlungen in der Mitte, das Publikum traut sich immer näher ran und bestaunt die fünf schwer atmenden Menschen. Nur so weit, bis sie sich langsam wieder in Bewegung setzen und dem Publikum rhythmisch wieder sehr nahe kommen.
Welches sind hier die treibenden Kräfte? Nicht das Publikum, das deutlich in der Überzahl ist. Die sich wogende Masse aus fünf Personen hat den Raum für sich vereinnahmt. Während sie sich wie ein Körper fortbewegt, hat die tatsächliche Masse – das Publikum – nur die Möglichkeit zu agieren, indem es ausweicht.
„Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes. Es ist die Masse allein, in der der Mensch von seiner Berührungsfurcht erlöst werden kann.“ So schreibt es Elias Canetti in seinem Hauptwerk „Macht und Masse“ im Jahr 1960, das durch anthropologische, soziologische und psychologische Aspekte einer essayistischen Untersuchung am nächsten kommt. Was passiert, wenn sich das geknechtete Individuum zur revolutionären Masse entwickelt? Canetti, der in seinem Werk versucht, das unheimliche Phänomen der Masse zu ergründen, ist Inspirationsquelle für Evelin, dessen Performance sich mit der Furcht vor dem Unbekannten und der gleichzeitigen Faszination dafür widmet.
Eine junge Frau legt sich während der Performance direkt vor den Musiker, und es scheint, sie versuche die reaktionäre Masse zu durchbrechen. Während die PerformerInnen sich mittlerweile vereinzelt durch die Masse bewegen und dem Individuum unter der Masse zum Teil scharf in die Augen blickt, gibt es auch hier individuelle Reaktionen: schnelles Wegschauen, ein zartes Lächeln, ein Halten des Blickes. Eine Frau lässt sich dazu hinreißen, einem Performer bei Blickkontakt über den Rücken zu streicheln. Und ja, ihre Augen verraten eine gewisse Faszination.
Ein Pärchen wird von der Gruppe berührt, es flüchtet in eine andere Ecke und wischt wild an sich herum. Die schwarze Farbe färbt ab. Um sich zu schützen, setzt sich das Paar außerhalb des Quadrats. Dort nehmen während der knapp 70-minütigen Performance immer mehr Gäste Platz. Es scheint, die anfängliche Neugierde ist gestillt.
Draußen im Garten ist der Urbäng!-Truck von atmosphärischen Farben umgeben und das Schmuckstück auf dem Gelände der Orangerie. Stefan Kraft führt ihn zu Beginn des Abends ein als „Botschafter von Urbäng!“ Er solle „helfen, den Traubenkreis von ewigen, gleichen Verdächtigen aufzubrechen und neue Zuschauerkreise zu erreichen.“ Im Truck tanzt an diesem Abend die wahrscheinlich kleinste Burlesque-Tänzerin der Welt, Mademoiselle Lychee. Viele, die aus dem Truck herauskommen, lachen herzlich. Andere stehen vergnügt um den Truck herum, essen Pizza und Kürbissuppe und unterhalten sich angeregt, während eine weitere kleine Gruppe von PerformerInnen sich untermischt.
Dabei befindet ein Mann – der irgendwie schon sehr nach dem erwähnten Traubenkreis aussieht – rückblickend mit seiner Begleitung, Evelins Performance als „zu lang“. Tatsächlich, Evelins Einladung, die Zuschauer auf ein intimes Erlebnis mitzunehmen, um Fragen zu Migration, Rasse und Macht anklingen zu lassen – das hätte er dem Publikum auch mit 30 Minuten Aufenthalt zutrauen können.
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