choices: Herr Hansjürgens, warum wollen sie die Natur mit Preisschildern bekleben?
Bernd Hansjürgens: Das will ich gar nicht. Die Natur hat einen eigenen Wert, der nicht hoch genutzt eingeschätzt werden kann. Wir Menschen wertschätzen aber nur das, was uns auch bewusst ist. Worum es in dem Forschungsprojekt „Naturkapital Deutschland – TEEB DE“ geht, ist ein Bewusstsein für Naturleistungen zu schaffen, die umsonst zu haben und daher den Menschen oft nichts wert sind. Es geht um Leistungen der Natur, die in Kosten-Nutzen-Rechnungen meist nicht auftauchen. Hier wollen wir ansetzen und mit ökonomischen Mitteln darauf hinweisen, dass die Naturleistungen einen Wert für den Menschen haben, der über Versorgungsleistungen wie Nahrungsmittel hinausgehen.
Sie sagten Naturkapital. Was ist das genau?
Diesen Begriff haben wir bewusst gewählt. Kapital ist in der Ökonomie ein Bestand. Und Bestände werfen ökonomische Erträge ab, wenn sie gepflegt werden. Nur wenn das Sachkapital gepflegt und gehegt wird, ist es in der Lage, ausreichende Dividenden abzuwerfen. Gleiches gilt für Humankapital. Auch das wirft Erträge nur dann ab, wenn in die Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter investiert wird. Dieses Konzept haben wir mit dem Begriff „Naturkapital“ auf die natürliche Umwelt übertragen. Auch Naturkapital kann nur dann Leistungen für den Menschen erbringen, wenn sein Bestand geschützt, erhalten und gepflegt wird, kurz: wenn in ihn investiert wird.
Welche ökonomischen Leistungen bringt zum Beispiel ganz konkret ein Wald?
Seit einigen Jahren sprechen wir von Ökosystem-(Dienst-)Leistungen. Das sind Leistungen der Natur für den Menschen. Hierzu zählen Versorgungsleistungen, wie Nahrung oder Holz, und Regulierungsleistungen, wie der Wasserkreislauf oder die Reinigung der Luft. Ein Ökosystem kann darüber hinaus auch kulturelle Leistungen erfüllen, die der Mensch in Form von Erholung, Urlaub, Ort des Zusammenkommens und so weiter nutzen kann. So ein Ökosystem stellt aber auch unterstützende Leistungen für andere Ökosysteme zur Verfügung, wie für Pflanzen oder Tiere, die von und im Wald leben. Diese vier Leistungsgruppen – Versorgungs-, Regulierungs-, Kulturelle und Unterstützungsleistungen – sind alles Leistungen, die letztlich dem Menschen dienen und zu seiner Gesundheit und zu seinem Wohlbefinden beitragen, die bisher ökonomisch aber nicht ausreichend gewürdigt werden.
Wie sieht das konkret aus?
Da wären wir wieder bei den Preisschildern vom Anfang. Es ist eben nicht immer möglich, für solche Leistungen einen monetären Wert anzugeben. Wir versuchen aber in verschiedenen Schritten alle Leistungen möglichst umfassend zu erfassen und weitgehend zu bewerten. Heraus kommt dann ein Mengengerüst dieser Leistungen, die – um beim Beispiel Wald zu bleiben – dieser für den Menschen erbringt. Beim Holz ist das einfach, dafür gibt es einen Markt und entsprechende Preise. Aber die Reinigungs- und Erholungsleistung oder die Fähigkeit des Waldes, CO2 zu speichern, werden in der Regel nicht mit einem Marktpreis versehen. Hier versuchen wir, wo möglich, eine Wertkategorie zu ermitteln. So wollen wir insbesondere die unsichtbaren, nicht über Märkte vermittelten Leistungen sichtbar machen und ins Bewusstsein rücken. Und das geschieht, indem wir sie ökonomisch betrachten.
Aber besteht nicht die Gefahr, durch eine Monetarisierung der Natur, der kapitalistischen Ausbeutung vollkommen Tür und Tor zu öffnen?
Dinge, die keinen Preis haben, werden häufig als wertlos angesehen. Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass die Dinge, die nur qualitativ beschrieben werden können, keineswegs weniger wichtig sind, als die quantitativ beschreibbaren, wie das Holz des Waldes. Der Gefahr, dass dem Kapitalismus das Tor zur Ausbeutung der Natur noch weiter aufgestoßen wird, wollen wir ja gerade begegnen. Wir wollen den Kapitalismus, wenn man so will, mit seinen eigenen Waffen schlagen.
Habe ich Sie richtig verstanden: Indem Sie Naturdienstleistungen in die Sprache des Kapitalismus übersetzen, wollen sie ihm ein Schnippchen schlagen?
Ja, durchaus. Ich würde sagen: Unser Vorgehen ist systemimmanent. Kapitalistische Wertmaßstäbe – Preis, Profit, Dividenden usw. – spielen eine besondere Rolle in unserer Welt. Einer Welt, in der Naturschützer mit ihren ethisch-moralischen Argumenten oft nicht durchdringen. Genau hier setzen wir an, indem wir versuchen, die ökonomische Kosten-Nutzen-Perspektive auf die Natur als Ganzes zu übertragen. So lässt sich nachweisen, dass wir in Hinblick auf unseren Wohlstand und unsere Wirtschaftskraft etwas verlieren, wenn wir Natur verlieren.
Ganz kapitalistisch gefragt: Wer profitiert von dieser Sicht auf die Natur?
Letztendlich die Natur selbst. Das ist zumindest unsere Hoffnung. Die Natur soll die Beachtung für ihre vielfachen Bedeutungen – ich sage jetzt mal ganz bewusst Bedeutungen –, die wir als selbstverständlich hinnehmen erhalten, die sie verdient.
Aber ökonomische Sichtweise klingt so kalt. So als wollten Sie die Natur ihres Zaubers berauben.
Nein, keineswegs. Es geht eher um eine weitere Perspektive, die auch den Zauber in Rechnung stellt. Natur ist so vielfältig und einzigartig, dass man sie aus so vielen Gründen wertschätzen kann: Liebe zur Natur oder innere Verbundenheit, wie die Verwurzelung in einer bestimmten Region mit ihrer je eigenen Landschaft. Das sind unglaublich wichtige Werte. Die wollen wir mit dem Naturkapital keineswegs ersetzen. Wir wollen vielmehr eine Perspektive als Erweiterung anbieten, die das gesamte Leistungsspektrum der Natur unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet, um so Entscheidungsträger zu erreichen, die durch eine naturbezogene Sichtweise nicht erreicht werden.
Wie muss man sich das Resultat vorstellen?
Im Idealfall bekommen wir ein Gleichgewicht hin, in dem Vorteile und Leistungen der Natur durch eine ökonomische Sichtweise besser abgebildet werden. Nehmen wir das Beispiel Baulandausweisung. Derzeit stehen den gewonnenen Flächen in Form von Wohnungen, Industriegebäuden oder Verkehrswegen auf der Nutzenseite lediglich die Baulandkosten auf der Kostenseite gegenüber. Das führt dazu, dass immer mehr naturnahe Flächen verloren gehen. Unser Ansatz zeigt aber, dass auf der Kostenseite wesentlich größere Verluste zu Buche schlagen, als lediglich die Erschließungskosten des Baulandes. Denn man verliert die bereits erwähnten Regulierungsleistungen, die kulturelle Bedeutung und die unterstützenden Naturleistungen dieses konkreten Stücks Natur. Und das ist realer Wohlstandsverlust – ausgedrückt in einer Sprache, für die Manager und Politiker empfänglich sind und die sie verstehen.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Mit unserer Studie „Naturkapital Deutschland“ haben wir z.B. illustriert, dass Moore unglaublich wertvoll sind und ihre Trockenlegung eine Katastrophe ist. Früher hatten wir sehr viele Moorgebiete und kohlenstoffreiche Böden in Deutschland. Durch Trockenlegung wurden daraus Äcker. Die erwirtschaften, im Gegensatz zum Moor, durch die Arbeit des Landwirts Profit. Dieser Profit entsteht aber nur, weil auf der Kostenseite nicht alle Faktoren eingerechnet wurden. Die Trockenlegung von Mooren zieht in Wirklichkeit hohe Verluste nach sich, wie z.B. die Kosten eines massiven CO2-Ausstoss, der unser Klima schädigt. Des Weiteren haben wir durch die Bewirtschaftung auf diesen Flächen Pestizideinträge, die sich wiederum auf den Wasserkreislauf und das Grundwasser negativ auswirken. So konnten wir ermitteln, dass in einer Größenordnung von etwa 5 zu 1 durch die Trockenlegung von Mooren mehr Schäden angerichtet werden, als durch die ackerbauliche Nutzung der ehemaligen Moore erzielt wird.
Und welche Konsequenzen können Entscheidungsträger aus ihren Berechnungen ziehen?
Wir versuchen besonders im städtischen Bereich dazu beizutragen, dass neue Allianzen zwischen Entscheidungsträgern geschmiedet werden. Wir weisen beispielsweise darauf hin, wie wichtig Stadtnatur ist, die neben ihrem Erholungswert ganz harte Gesundheitseffekte und Wohlfahrtseffekte hat. Sie sorgt für Abkühlung bei sommerlicher Hitze und filtert Staub aus der Luft. Das lässt sich sehr gut in gesundheitliche Wirkungen übersetzen und damit auch in Kosteneinsparungen für das Gesundheitswesen. Wenn nun der Leiter des Grünflächenamtes Verbündete im Gesundheitsbereich oder auch in der Stadtentwicklung findet, kann der Wert des Stadtgrüns von eben diesen Entscheidungsträgern besser erkannt werden und Kürzungen im Grünflächenamt kann auf breiterer Front begegnet werden.
Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und engels-kultur.de/thema
Aktiv im Thema
www.naturkapitalteeb.de | Projekt zur Erforschung der ökonomischen Bedeutung der Naturleistungen in Deutschland
koeln-waldlabor.de | Gemeinschaftsprojekt von Toyota, RheinEnergie und der Stadt Köln erforscht den Wald der Zukunft
www.robinwood.de | NGO für Umwelt- und Naturschutz
Thema im Juli: FREIHEIT – Menschenrecht oder Illusion?
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