Der Raum ist voll im Kölner Literaturhaus, einem sehr alten Ort aus dem Jahr 1590. Irgendwie fühlt man sich wie in eine Zeitmaschine versetzt. Auf der Bühne stellt sich die deutsch-türkische Fernsehmoderatorin, -redakteurin und Autorin Hülya Özkan im Gespräch mit dem Moderator Aydin Üstünel und der politischen Journalistin Astrid Wirtz vom Kölner Stadt-Anzeiger einem kritischen Diskurs zu ihrem Buch „In Erdoğans Visier: Warum er die Deutschtürken radikalisieren will und was das für uns bedeutet“.Schon befindet sich das Publikum wieder in einer Zeitreise: diesmal in eine eher ungewollte – nämlich in Erdoğans wahnwitziges, rückwärtsgewandtes autokratisches „Reich“. Einem „alten Herrn“, wie Özkan es zunächst vorsichtig formuliert, um später in der Diskussion mit Augenzwinkern zum „alten Sack“ überzugehen, der gegen Kaiserschnitt wettert, für die Todesstrafe plädiert, äußerst frauenfeindlich ist und zahlreiche weitere erstaunliche Dinge von sich gibt und tut. Und das im Jahr 2018 und obwohl die Türkei eigentlich ein fortschrittliches und sekuläres Land geworden ist. Nach diversen, von ihr zuvor verfassten, fiktiven Krimis, die in Istanbul spielen, ist dieses Buch eher politisch und gespenstisch real.
Die zentrale Fragestellung lautet: Warum fühlen sich ausgerechnet junge Türken auf solch groteske Weise von einem so alten Autokraten angezogen? Und warum ausgerechnet in Deutschland, einem Land, in dem Demokratie und Freiheit nach hartem historischem Kampf mit einem ebenfalls größenwahnsinnigen, wenn auch damals nicht ganz so alten Mann, von großer Bedeutung sind? Während Özkan, selbst Kind türkischer Einwanderer, die 1963 als Gastarbeiter nach Deutschland kamen, stellenweise aus ihrem Buch vorliest, versucht Politikredakteurin Wirtz Antworten zu liefern. Eine pauschale Erklärung gebe es nicht, dafür aber diverse Ansätze: Gerade junge Menschen würden von Erdoğan stark emotionalisiert. Die konservative AKP verfüge über ein sehr gut ausgebildetes PR-Netzwerk, das sie ausnutze und von der Türkei aus professionell leite. Zum einen seien insbesondere Jugendliche für Gruppenbildung sehr empfänglich, wobei soziale Medien dabei eine nicht unwesentliche Rolle spielen, gleichzeitig aber auch eine Gefahr darstellen würden. Zum anderen seien diese jungen Menschen aber auch mitunter verunsichert, weil sie in Deutschland – neben positiven Dingen wie Toleranz, Demokratie und Freiheit – gelegentlich auch auf NSU-Terror, Attentäter und Fremdenfeindlichkeit treffen, so Wirtz.
Es komme zu Trotz, Aggression, Wut, dass sie in Deutschland u.a. von Rechtspopulisten unter den Generalverdacht „sind doch alles Terroristen“ gestellt werden, so dass diese Radikalisierung paradoxer Weise auf beiden Seiten vorangetrieben werde: Die „Wut“-Erdoğan-Bürger, die heutzutage tatsächlich für einen selbstherrlichen Patriarchen auf die Straße gehen und sich für überholte Dinge öffentlich aussprechen, was gleichzeitig wiederum ein gefundenes Fressen für deutsche Rechtspopulisten sei, die sich dadurch noch mehr in ihren Vorurteilen bestätigt fühlen: „Schau mal da – der muslimische Terrorist, der mich und mein Land bedroht!“
Wirtz sieht sich bezüglich des viel diskutierten Rechts auf Demonstration – speziell pro Erdoğan – selber im Zwiespalt: „Das Recht auf freie Meinungsäußerung in Deutschland soll ganz klar für alle Menschen gelten, aber wenn dabei Dinge wie die Einführung der Todesstrafe lautstark herausposaunt und tatsächlich gefordert werden, sind auch meine Grenzen der Toleranz überschritten“, sagt sie. Gerade in einem demokratischen Staat wie Deutschland, der aufgrund seiner Vergangenheit zum Glück inzwischen weit weg von Dingen wie der Todesstrafe ist, wird es dann fast schon gefährlich. „Diese Deutschtürken haben dann den Boden der Demokratie meines Erachtens verlassen,“ so Wirtz.
Was kann man also tun? Eine non plus ultra Drei-Wetter-Taft-Lösung gibt es angesichts der Komplexität des Themas eher nicht. Stattdessen wird mehrheitlich für mehr Kommunikation – möglicherweise über Integrationsprojekte – auch zwischen Deutschtürken und Deutschen plädiert: Dass man wirklich etwas über „den Anderen“, mit dem man ja nun schon seit Jahren Haustür an Haustür wohnt, erfährt, anstatt nur gelegentlich eine Dönerbude schnell mal in der Mittagspause aufzusuchen und dann wieder zu verschwinden. Denn nur so könne echte Nähe und dementsprechend Vertrauen aufgebaut werden. Auch kommt die Kritik auf, dass noch immer viele Anlaufstellen für Deutschtürken in religiöser Hand seien, was den Dialog nicht gerade verbessere.
Dass das deutsch-deutsch-türkische Verhältnis seit dem obskuren Imperium-Aufstieg Erdoğans massiv belastet und durch Debatten wie die „Böhmermann-Krise“ und dem Vorwurf des Regimes Erdoğans, die deutschen Behörden würden „Nazi-Methoden“ anwenden, noch mehr an Brisanz und Skurrilität gewann, spiegelt sich auch in der regen Anteilnahme des Publikums wider.
„Warum gibt es eigentlich nicht mehr Solidarität unter Deutschtürken, eine Art Aufschrei?“, fragt ein Besucher. Hülya Özkan antwortet: „Ich habe gar nicht das Bedürfnis, mich mit irgendeiner Gruppe zu identifizieren, denn ich möchte mich ja in Deutschland integrieren, habe das ja auch zum Teil bereits geschafft. Warum sollte ich mich also wieder mit einer nationalen Gruppe aus meiner Vergangenheit solidarisieren? Ich bin doch ich.“ Allerdings räumt die inzwischen über 60-Jährige später ein, dass sich auch in ihr – seit der Autokratie Erdoğans und dem ominösen Verhalten manch deutsch-türkischer Anhänger – schon ein Wandel vollzogen habe: Auch sie spüre inzwischen die Verpflichtung, etwas zu sagen, sich öffentlich zu äußern und – wenn nötig – Stellung zu beziehen. In ihre Heimat Türkei, in der sie immer mal wieder lebte, traut sie sich derzeit allerdings nicht, und der Istanbuler Krimi liegt derzeit eher auf Eis: Das Produktionsteam habe Schwierigkeiten bekommen, vor Ort zu drehen. Der einst fiktive Krimi scheint momentan leider eher in einen realen übergegangen zu sein.
„In Erdoğans Visier: Warum er die Deutschtürken radikalisieren will und was das für uns bedeutet“ | Knaur | 192 S. | 12,99 €
Veranstaltungshinweis:
Hrant Dink - Gedenkveranstaltung: Menschenrechtler und Gründer der armenisch-türkischen Wochenzeitung AGOS | mit Aslı Erdoğan, Celal Başlangıç, Raffi Kantian, Cem Özdemir, Günter Wallraff, Ragip Zarakolu u.a. | Sa 20.1. 16 Uhr | Alte Feuerwache
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