Die freie Regisseurin, Dramaturgin und künstlerische Leiterin von Wehr51 bespricht im Interview die Folgen der Covid-19-Pandemie für die Theaterszene – sowie Nicht-Ängste, Baumchöre und Geister an Fassaden.
choices: Frau Bleikamp, befindet sich die Kunst- und Veranstaltungsbranche schon in der Post-Corona-Ära?
Andrea Bleikamp: Wir freuen uns, dass Veranstaltungen wieder möglich sind und wir sowohl eine Premiere mit „Trans-S“ als auch verschiedene Vorstellungen vor Publikum spielen konnten. Allerdings sind die Leute noch sehr vorsichtig.
Wie haben Sie die letzten zwei Jahre aus geschäftlicher Perspektive erlebt?
Es war eine unglaublich anstrengende Zeit, die mir auf allen Ebenen viel abverlangt hat. Das Tempo und die Anforderungen haben sich enorm erhöht. Andererseits bin ich erstaunt über meine Resilienz und dankbar, dass sich in der Krise die Wahl meiner Kollegin Rosi Ulrich nochmals bestätigt hat.
Ist die freie Theaterszene die gleiche wie vor Covid-19?
Wahrscheinlich ist eine Produktionsblase entstanden, die bald platzen wird. Es gibt viele neue Ensembles, Produktionsstau, aber wenig Nachhaltigkeit in Bezug auf gewachsene Strukturen. Das Gießkannenprinzip in der Förderung ist kurz gedacht und wird die Szene langfristig verändern. Der Bedarf an Techniker:innen, Produktionsleitungen und Management ist rasant gestiegen, was die Preise explodieren lässt und die Konkurrenz ungut befeuert.
Wie bewerten Sie aus Sicht einer Theaterschaffenden die politischen Reaktionen auf die Pandemie?
Ich bin da kein guter Maßstab. Im Nachhinein weiß man es immer besser. Angst ist kein guter Ratgeber. Ich bin eher ein angstfreier Mensch, gehe Risiken ein und brauche wenig Sicherheiten.
Wie steht es denn um die vielbeschworene Solidarität in der Kunstszene?
Die Situation ist in Köln schwierig, da wir viel zu wenig Spielstätten haben. Ein Theaterhaus mit einer größeren Bühne wäre dringend notwendig, der Tanz braucht einen Ort und so ist auch Solidarität schwierig, weil alle ums Überleben kämpfen.
Theater versteht sich als Spiegelbild der Gesellschaft. Müssen wir demnach mit einer inflationären Menge an Stücken rechnen, die Corona sowie den Ukraine-Krieg als Sujets thematisieren und diese Tragik vielleicht entwerten?
Entwertung würde ich das nicht nennen, da die Beschäftigung mit diesen beiden Themen wichtig ist. Aber nicht alles, was sich mit diesen Themen beschäftigt, ist automatisch gut. Wenn Corona und Ukraine berechnend als Stempel benutzt werden ist mir das zu wenig. Wenn es nur Erfolg hat, weil der Stempel drauf ist, dann auch.
Wie fällt Ihre Bilanz für die vergangene Spielzeit aus?
Wir hatten eine sehr erfolgreiche Spielzeit und das spornt enorm an. Unsere Experimentierfreudigkeit wurde belohnt und mit Produktionen wie „Virtual Brain“ oder „Trans-S“ konnten wir im Einsatz mit neuen Medien Maßstäbe setzen. Wir arbeiten mit einem tollen Team. Das macht neugierig auf mehr, gerade im Technik-Bereich, aber auch gegenteilig: Ich liebe antizyklische Prozesse.
Welche Werke Ihrer Kolleg:innen haben Ihnen in letzter Zeit besonders gut gefallen?
Das ist mir zu heikel. Ich gehe gerne ins Theater und sehe sehr viel. Nachher vergesse ich jemanden. Aber Geister an Fassaden und im Wald, die sich spiegeln und laut „Nö!“ rufen, das gefällt mir.
An welchen Inszenierungen arbeitet Wehr51 und was sind mögliche Spielorte?
Wir werden „Heroes“ mit dem Atelier mobile, „Fractura“ im Orangerie-Theater oder die „Drei Schwestern“ im Studio Trafique weiter laufen lassen. „Trans-S“ wird in einer zweiten Staffel im Freien Werkstatt Theater gezeigt. 2023 gibt es eine Neuproduktion: „Le Cri“, über das Sterben eines Baums – eine Uraufführung für Schauspieler und vier Baumchöre mit Gästen, Künstler:innen und Wissenschaftler:innen. Der Ort ist noch geheim, aber es wird fett!
Bei aller Experimentierfreude – welche Rolle im Theatergefüge wird dem Publikum zukommen?
Bei uns ist das Publikum immer Teil der Inszenierung. Wir verfolgen eine immersive Dramaturgie, in der die Zuschauer:innen sinnlich ins Geschehen hineingezogen werden.
Die zunehmende Technisierung mittels multimedialer Darbietungen demonstriert die Möglichkeiten moderner Dramaturgie, lenkt aber mitunter vom Individuum ab. Ist die Zukunft des Theaters eine Bühne ohne Mensch?
Das glaube ich nicht. Das sind neue Gewerke, die eine weitere Ebene ermöglichen. Am Anfang ist eine Idee und dann kommt die Wahl der Mittel. Das können auch nur ein Tisch und zwei Stühle oder eine VR-Brille sein.
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