Die Kriminalliteratur verfügt über wenige Leitsterne. Bei ihrer Aufzählung fallen die immer gleichen Namen und Titel. Neben Chandler, Hammett oder Thompson gehörte auch James M. Cain zu den äußerst etablierten Schriftstellern dieses Genres. Die Verfilmungen seiner Romane „Wenn der Postmann zweimal klingelt“, „Double Indemnity“ und „Mildred Pierce“ haben ihm auch einen Platz in der Filmgeschichte gesichert. Erfolge, die auch Neid auf sich zogen, etwa den von Raymond Chandler, der Cain bescheinigte, „ein Proust im schmierigen Overall“ zu sein.
Nun ist ein bisher unveröffentlichter Roman von Cain aufgetaucht. Im Original trägt er den Titel „The Cocktail Waitress“, mit „Abserviert“ von Walde + Graf, die ihre Bücher im Berliner Verlag Metrolit anbieten, gut übersetzt. Das Manuskript galt lange Zeit als verschollen, dann tauchte es gleich in mehreren Versionen auf. Cain, der aus bildungsbürgerlichem Hause stammte – die Mutter war Opernsängerin –, hatte in den letzten Lebensjahren immer wieder von diesem unvollendeten Roman gesprochen. Als er 1977 mit 85 Lebensjahren starb, verschwand das sorgfältig bearbeitete Manuskript.
Die Geschichte wird von der jungen Witwe Joan Medford selbst erzählt. Sie hat gerade ihren Mann, einen gewalttätigen Trinker, bei einem Unfall verloren und muss ihren kleinen Sohn durchbringen. Da erhält sie den Tipp, einen Job als Bedienung in einer Cocktailbar anzunehmen. „Das ganze Buch sollte den heißen, aufdringlichen, verschwitzten weiblichen Geruch einer Cocktailbar verströmen“, wünschte sich Cain, als er mit dem Schreiben begann. Und dieses Vorhaben hat er auch umgesetzt.
Schon die knappen Kostüme, in denen die Frauen unter der Kontrolle einer gestrengen Chefin arbeiten, legen genau fest, was gezeigt wird und was nicht – scheinbar nebensächliche Details, die jedoch im Verlauf der Handlung an Bedeutung gewinnen. Denn Joan angelt sich in dieser scharfen Aufmachung einen reichen älteren Herrn als Heiratskandidaten. Die finanziell Mittellose nutzt Sex als Machtmittel. Da wir die Geschichte jedoch mit ihren Worten erzählt bekommen, liegt über ihren erotischen Strategien stets ein halbseidener Unschuldsschleier.
Cain verwandelt seine Heldin in eine Alleinherrscherin: „Joan gibt den Takt vor – ihr Gang, ihre Accessoires, die Konturen ihrer Beine, ihr Geruch...“, an alles hat Cain gedacht, nachdem er die Leser einmal zur Geisel seiner Hauptfigur gemacht hat. Eine Strategie, die den eigentlichen Reiz der Geschichte ausmacht. Denn Joan heiratet den Mann mit dem vielen Geld, möchte ihn aber möglichst nicht in ihrem Bett haben. Der Autor stilisiert die Heldin nicht zu einem männermordenden Vamp, sie bleibt die hübsche Frau von nebenan, die halt nicht auf der Strecke bleiben will. Auch als sie sich in einen anderen Mann verguckt, verliert sie darüber nicht den Verstand. Im Gegensatz zu Cains großen Erfolgen ist die Dramatik in diesem Roman nur verhalten angelegt.
Aber darf man diesem Eindruck trauen? Vielleicht war der Tod von Joans erstem Mann ja gar kein Unfall? Cain zieht einen Faden des Misstrauens in die scheinbar freimütigen Erzählungen seiner Protagonistin ein. Die Geschichte spielt gegen Ende der Fünfzigerjahre und das eigentliche Faszinosum dieses Romanfunds liegt in dem Blick, mit dem uns Cain diese Epoche aus der Perspektive einer Frau eröffnet.
Joan ist selbstständig und geht ihren Weg in einer noch deutlich von Männern bestimmten Gesellschaft. Diesen Verhältnissen muss sie sich zwar fügen, aber auch sie besitzt ihre Trumpfkarten im Spiel der Abhängigkeiten, ohne dass Cain sie deshalb in ein verschlagenes Luder verwandelt. „Abserviert“ ist darum anders als viele vergleichbare Stories frei von der Dämonisierung alles Weiblichen. Das gibt dem Roman eine sympathische Note: Er bleibt sexy und lebt weniger vom Plot als von seinem weiblichen Panoramablick auf jene Zeit, als man in den USA noch mit dicken Straßenkreuzern zum Supermarkt fuhr.
James M. Cain: Abserviert. Deutsch von Simone Salitter und Gunter Blank. Nachwort von Charles Ardai. Metrolit. 352 S., 22.99 €
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