Samuel Decker, 25, macht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin seinen Master in Wirtschaftswissenschaften. Seinen Bachelor schloss er in Hamburg ab, wo er auch das Netzwerk Plurale Ökonomik mitgründete.
choices: Herr Decker, wie ist es um das historische und kritische Bewusstsein der Wirtschaftswissenschaften bestellt?
Samuel Decker: Unser Hauptkritikpunkt bei der bestehenden Volkswirtschaft ist die Einseitigkeit. Die Einseitigkeit, wie über Finanzmärkte, Eurokrise, Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung gesprochen wird. Das sind gesellschaftlich relevante Themen.
Was fordern sie stattdessen?
Samuel Decker, 25, macht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin seinen Master in Wirtschaftswissenschaften. Seinen Bachelor schloss er in Hamburg ab, wo er auch das Netzwerk Plurale Ökonomik mitgründete.
Wir fordern, dass die Bandbreite der tatsächlich existierenden Theorien und Ansätze in die Lehre und Forschung miteinbezogen werden. Wir unterscheiden zwischen theoretischem Pluralismus, methodischem Pluralismus und interdisziplinärem Pluralismus. Theoretischer Pluralismus heißt, wir wollen, dass auch alternative Theorien, wie Post-Keynesianismus, Komplexitätsökonomik, ökologische Ökonomik, aber auch so was wie Marx’sche Ökonomik Eingang in die Ausbildung finden. Beim methodischen Pluralismus wollen wir, dass nicht nur Statistik und lineare Algebra zu Hilfswissenschaften erklärt werden, sondern auch Soziologie und qualitative Methoden. Mit dem interdisziplinären Pluralismus fordern wir, dass VWL, Politikwissenschaften, Sozialwissenschaften nicht wie starre Blöcke nebeneinanderstehen, jeder mit seiner eigenen Aufgabe. Wir sagen, dass es eigentlich ein politisches, sozialwissenschaftliches Paradigma geben muss.
Ihnen geht es also um mehr Ideengeschichte im Studium?
Wir wollen eine stärkere Kontextualisierung des Faches. In VWL wird man niemals erfahren, wie der Kapitalismus entstanden ist. Das ist Thema in der Soziologie oder bei Historikern. Uns vom Netzwerk Plurale Ökonomik geht es grundsätzlich darum, dass die Studierenden die Möglichkeit haben sich selber zu bilden. Studierende, die wissen wollen, wie die Wirtschaft funktioniert oder auch selber Verantwortung tragen sollen, müssen die Möglichkeit bekommen, durch verschiedene Theoriebrillen zu schauen. Nur so können sie einen eigenen Standpunkt entwickeln. Nur so können sie später auch eigene Antworten geben. Außerdem sollten Studenten recht schnell lernen, wie interessengetrieben Wissenschaft ist.
Liegt in der Eindimensionalität der Wirtschaftswissenschaft nicht auch eine große Gefahr?
Die hat gravierende Auswirkungen auf die Gesellschaft. Im Wirtschaftsjournalismus und in der Politikberatung sind eigentlich nur Mainstream-Ökonomen unterwegs. Man muss sich nur den Rat der Wirtschaftsweisen anschauen: Der besteht, bis auf Peter Bofinger, ausschließlich aus Mainstream-Ökonomen. In ihrem vorletzten Gutachten, erklärten sie das Einsetzen einer Rezession mit der Frauenquote, die aber noch nicht eingeführt war. Dieses Gremium, das die Bundesregierung berät, arbeitet mit theoretischen Annahmen, die man hinterfragen kann.
Gibt es weitere Beispiele, wo die Beschränktheit hinführt?
Wie beispielsweise über die Eurokrise geredet wird. Hinter dem Austeritätskurs stecken ganz bestimmte theoretische Annahmen. Wie beispielsweise die, dass der Staat haushalten müsse wie eine schwäbische Hausfrau, die nicht mehr ausgibt, als sie einnimmt. Ein Post-Keynesianer käme hingegen zu anderen Betrachtungsweisen und zu anderen Lösungen. Und die wären nicht automatisch falsch. Stattdessen wird von einem Großteil der gegenwärtigen Wissenschaftler der Austeritätskurs als alternativlos dargestellt.
Wie könnte es anders laufen?
Mit einem Rat der Wirtschaftsweisen, der von einem Neoklassiker, einem Post-Keynesianer, einem Marxistischen- und einem Umweltökonomen besetzt wäre, mit ihren verschiedenen Sichtweisen, das hätte eine ganz andere Wirkung auf die öffentliche Debatte. Und auch wenn sich das systemisch sicherlich nicht direkt niederschlagen würde, gäbe es doch produktive Widersprüche. Der Rat der Wirtschaftsweisen sollte beherzigen, was er predigt: Wettbewerb. Wir brauchen in der Wirtschaftswissenschaft einen freien Wettbewerb der Ideen, für den unser Netzwerk kämpft.
Wohin führt die Fixierung auf Mathematik und Statistik im Studium?
Die spielt eine verheerende Rolle. Auf der individuellen Ebene birgt die Fixierung auf die Mathematik die Gefahr, dass das Denken verengt wird. Die exzessive Beschäftigung mit Formeln hält die „real world“ draußen und erspart einem, sich mit den ethischen Dimensionen der Wirtschaftswissenschaft zu beschäftigen. Aber auch die Beschäftigung mit mathematischen Formeln, die so erzeugte vermeintliche Neutralität, transportiert normative Maßstäbe. Nämlich die einer exakten Wissenschaft, die vorgibt per se nicht politisch zu sein.
Das scheint auch der Kern des Neoliberalismus zu sein…
…das ist auch der Kern der neoliberalen Ideologie. Ich sage nicht, die sind deckungsgleich, aber sie haben ähnliche Wurzeln. Beide geben vor, keine Ideologie zu transportieren, geben vor ein Ort der Vernunft zu sein. Und am Ende kommt etwas heraus, womit wir alle einverstanden sein müssen, weil es auf den freien Entscheidungen der Individuen beruht. Dabei wird alle historische und institutionelle Einbettung der Individuen missachtet. Wichtig wäre hingegen, sich einzugestehen, dass es nur eine bestimmte theoretische Schule ist, die einen bestimmten Blick auf das Marktgeschehen, die Gesellschaft hat und damit nur eine Perspektive von vielen möglichen einnimmt. Auch so transportiert man normative Maßstäbe.
Aktiv im Thema
www.plurale-oekonomik.de/home
www.tauschen-koeln.de
www.vorsorgezeitbank.mynetcologne.de
Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und engels-kultur.de/thema
UNGLÄUBIG – Gott ist tot! – daran „glaubte“ schon Nietzsche. Atheisten, Agnostiker und andere Ungläubige: Ein Leben ohne religiöse Sinnressource
(Thema im Dezember)
AutorInnen, Infos, Texte, Fotos, Links, Meinungen...
gerne an meinung@choices.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Auf Augenhöhe
25 Jahre Philosophisches Café in Bonn – Spezial 07/23
Die Gespenster des Kapitalismus
Das neue Buch der taz-Wirtschaftskorrespondentin Ulrike Herrmann – Literatur 09/16
Viel Arbeit, wenig Widerstand
Der Mittelstand wünscht sich eine fairere Besteuerung, tut aber zu wenig dafür – THEMA 01/16 GERECHT STEUERN
„Autistische Ökonomie“
Der Markt macht einen auf Gott und alle sind dabei – THEMA 11/15 GEMEINWOHL
Geld ist nicht alles
Tauschringe und Zeitbanken als Alternative zur Geldwirtschaft – Thema 11/15 Gemeinwohl
Der Joker im Spiel
Über Geld, Schulden und Gefühle - THEMA 03/12 GELD
Münzen können sehr teuer sein
Alfred Hahne über Münzensammeln und regionale Geschichte - Thema 03/12 Geld
Immaterielle Werte
Christoph Hellmann über Geld, Zigaretten und Vitrinen - Thema 03/12 Geld
Jahr der Entscheidung
Silke Tober über Geld, Geldmengen, Verschuldung und Krisenrhetorik - Thema 03/12 Geld
„Ein Überbietungswettbewerb zwischen den EU-Staaten“
Teil 1: Interview – Migrationsforscherin Leonie Jantzer über Migration, Flucht und die EU-Asylreform
„Die Kategorie Migrationshintergrund hat Macht“
Teil 2: Interview – Migrationsforscher Simon Moses Schleimer über gesellschaftliche Integration in der Schule
„Es braucht Kümmerer-Strukturen auf kommunaler Ebene“
Teil 3: Interview – Soziologe Michael Sauer über Migration und Arbeitsmarktpolitik
„Früher war Einkaufen ein sozialer Anlass“
Teil 1: Interview – Wirtschaftspsychologe Christian Fichter über Konsum und Nostalgie
„Nostalgie verschafft uns eine Atempause“
Teil 2: Interview – Medienpsychologe Tim Wulf über Nostalgie und Politik
„Erinnerung ist anfällig für Verzerrungen“
Teil 3: Interview – Psychologe Lars Schwabe über unseren Blick auf Vergangenheit und Gegenwart
„Viele Spiele haben noch einen sehr infantilen Touch“
Teil 1: Interview – Medienpädagoge Martin Geisler über Wandel in der Videospiel-Kultur
„Genießen der Ungewissheit“
Teil 2: Interview – Sportpädagoge Christian Gaum über das emotionale Erleben von Sportevents
„Ich muss keine Konsequenzen fürchten“
Teil 3: Interview – Spieleautor und Kulturpädagoge Marco Teubner über den Wert des Spielens
„Die Bürger vor globalen Bedrohungen schützen“
Teil 1: Interview – Politikwissenschaftler Oliver Treib über Aufgaben und Zukunft der Europäischen Union
„Mosaik der Perspektiven“
Teil 2: Interview – Miriam Bruns, Leiterin des Goethe-Instituts Budapest, über europäische Kultur
„Der Verkauf des Kaffees nach Europa ist gestoppt“
Teil 3: Interview – Sebastian Brandis, Sprecher der Stiftung Menschen für Menschen, über das EU-Lieferkettengesetz
„Tiefseebergbau ohne Regularien wäre ganz schlimm“
Teil 1: Interview – Meeresforscher Pedro Martinez Arbizu über ökologische Risiken des Tiefseebergbaus
„Wir müssen mit Fakten arbeiten“
Teil 2: Interview – Meeresbiologin Julia Schnetzer über Klimawandel und Wissensvermittlung
„Entweder flüchten oder sich anpassen“
Teil 3: Interview – Klimaphysiker Thomas Frölicher über ozeanisches Leben im Klimawandel
„Es liegt nicht am Gesetz, Kriminalität zu verhindern“
Teil 1: Interview – Kriminologe Dirk Baier über Gewaltkriminalität und Statistik