Rund 60 Prozent aller Beschäftigten arbeiten, laut Institut für Mittelstandsforschung, in kleinen und mittelständischen Unternehmen mit bis zu 500 Mitarbeitern. Sie sorgen für mehr als ein Drittel des Gesamt-Umsatzes der deutschen Wirtschaft. Das sollte für die Politik Grund genug sein, um Gesetze zu formulieren, die es zum Beispiel Autowerkstätten, Pflegediensten oder Gemüsehändlern leicht machen, Geld zu verdienen, Arbeitsplätze zu schaffen, in Innovationen zu investieren.
Folgerichtig kündet der Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung an: „Wir wollen die Rahmenbedingungen zur Entfaltung von Mittelstand, Selbstständigkeit und Existenzgründungen verbessern.“ Aber: Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die neueste, im Dezember 2013 veröffentlichte Analyse der Beratungsfirma PriceWaterhouseCoopers und der Weltbank stellt fest, dass die Steuern und Abgaben für Unternehmen in Deutschland im Jahr 2013 von rund 46,8 (2012) auf 49,4 Prozent des Unternehmensgewinns gestiegen sind. Die Studie berücksichtigte dabei alle Steuern und Abgaben, die ein Produktionsunternehmen zahlt, also auch versteckte Steuern und Abgaben wie den Arbeitgeberanteil am Sozialversicherungsbeitrag sowie Energiesteuer, Grundsteuer, Versicherungssteuer und Lkw-Maut. Im weltweiten Steuerranking fiel der Standort Deutschland damit von Platz 72 auf Platz 89 zurück. Diese höhere Steuerbelastung ging unmittelbar zulasten der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Mittelstands.
Auch Länder, die nicht als Niedrigsteuerland gelten können, bürdeten mittelständischen Unternehmen eine weitaus geringere Abgabenlast auf als Deutschland. In Dänemark beispielsweise belief sich die Rate auf 27 Prozent, in Norwegen mussten Betriebe im Durchschnitt 40,7 Prozent ihres Unternehmensgewinns an den Staat abführen.
Warum hört man bis auf das jährliche Mantra des Bundesverbands für mittelständische Wirtschaft (BMWI) zur Steuerentlastung kaum lautstarken Protest von den kleinen und mittelständischen Unternehmen? Vor allem vor dem Hintergrund, dass die großen Konzerne, mit denen sie im Wettbewerb stehen, meistens nicht von diesem Standortnachteil betroffen sind. Sie können andere Methoden der Steuervermeidung nutzen. Hier kommt es zu einer enormen Wettbewerbsverzerrung, da die großen Konzerne überproportional von Standortvorteilen wie gut ausgebildetem Personal oder idealer Autobahnanbindung profitieren, aber unterproportional, wenn überhaupt, dafür zahlen.
Kleine und mittelständische Unternehmen können oder wollen sich offensichtlich gegen die bestehende Steuerpraxis kaum wehren, vermutlich weil sie lieber ihrer Arbeit nachgehen oder einfach keine festangestellten Lobbyisten beschäftigen. Oder aber sie zeigen sich einsichtig: „Die Höhe der Unternehmenssteuern ist für mich völlig in Ordnung“, sagt Frank Immendorf, Chef einer Vier-Personen-Firma in Lohmar. „Was uns aber sehr helfen würde, wäre eine Entbindung von der gesetzlich vorgeschriebenen Umsatzsteuereintreibung oder den Berichtspflichten.“ In kleinen Unternehmen muss der Chef den Schreibkram selbst übernehmen, unproduktive Schreibtischtätigkeit, im Durchschnitt, laut pwc-Studie 218 Stunden im Jahr. Arbeitszeit, die er lieber für die Akquisition von Kunden oder die Entwicklung neuer Ideen einsetzen und damit Arbeitsplätze sichern und schaffen würde.
Weniger entspannt sieht der Mittelstand die Diskussion über Vermögenssteuern und die Revision der Erbschaftssteuern, die beide nicht auf Unternehmensgewinne sondern auf das Betriebsvermögen erhoben würden. Dieses steckt oft zu großen Teilen in Immobilien, Maschinen oder Fuhrpark. Werden diese Produktionsmittel besteuert, müssen die Unternehmer die Steuern sozusagen vom Ersparten bezahlen, das eigentlich für schlechte Zeiten oder nächste Investitionen vorgesehen ist. Sind sie nicht „flüssig“, müssen sie Maschinen verkaufen oder teure Kredite aufnehmen. Die Erbschaftssteuer wird gerade überarbeitet. Familienunternehmer befürchten, dass es mit einer neuen, weniger Unternehmens-freundlichen Regelung zu vielen Unternehmenspleiten kommen könnte.
Viele mittelständische Unternehmer fühlen sich verantwortlich für ihre Region und ihr gesellschaftliches Umfeld, engagieren sich, schaffen flexible mitarbeiterfreundliche Lösungen, spenden für gute Zwecke, bilden über 80 Prozent aller Azubis aus und stehen mit ihren Mitarbeitern auch harte Zeiten durch. Sie sehen ein, dass sie Steuern zahlen müssen. Es gäbe also eine gute Grundlage, um gemeinsam Lösungen für eine faire Besteuerung zu finden. Aber dazu müssten die Politiker die kleinen und mittelständischen Unternehmer zunächst einmal verstehen. Das gelingt allein deshalb nicht, weil sie zu viel Zeit damit verbringen, die Interessenvertreter der großen Konzerne anzuhören. Wer heißt noch gleich mit zweitem Namen „Rückgrat der deutschen Wirtschaft“?
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Jaja, der Mittelstand
Also wenn ich wissen möchte, was "der Mittelstand" so alles fordert, dann kann ich auch gleich bei der Interessenvertretung oder bei der FDP anfragen.
Überhaupt ... "Mittelstand", was für ein Begriff. Ähnlich hilfreich und neutral wie "Mitte der Gesellschaft", "wettbewerbsfähig", "Abgabenlast" und "Lohnnebenkosten".
Dass Großunternehmen keine Steuern zahlen, das wäre tatsächlich ein Thema. Aber das nur als Vorlage zu nehmen, um Steuern zu senken, ähm pardon, ich meine um "Gesetze zu formulieren, die es zum Beispiel Autowerkstätten, Pflegediensten oder Gemüsehändlern leicht machen, Geld zu verdienen, Arbeitsplätze zu schaffen, in Innovationen zu investieren" ... enttäuschend.
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