In Westeuropa erlebt es im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhundert seine Blütezeit: das Dienstbotenwesen. „Der ideale Mensch fühlt Freude, wenn er anderen einen Dienst erweisen kann“, so der griechische Philosoph Aristoteles. Um heute in den Genuss des Bedientwerdens zu kommen, braucht es lediglich einen Internetzugang.
Plattformkapitalismus at its best. Wer hart arbeitet, soll sich auch etwas gönnen dürfen. Warum also nach einem anstrengenden Arbeitstag noch in den Supermarkt, um Sprudel zu kaufen? Flaschenpost – Klick. Warum noch mühsam nach einem Geschenk Ausschau halten? Amazon Prime – Klick. Warum kochen, wenn man anders kann? Lieferando – Klick.
Mit diesen Konzepten haben sich die ursprünglichen Startups zu kolossalen Unternehmen entwickelt: Amazon hat kürzlich einen Börsenwert von einer Billion Dollar erreicht, Delivery Hero verdient zum Start an der Frankfurter Börse knapp eine Milliarde Euro. Es ist verlockend den Zeigefinger zu heben und sich zu echauffieren. Unzählige Arbeitsplätze werden geschaffen, doch die Bedingungen dahinter sind diffizil.
Ein bis zweimal im Monat bekommt Inés Ajnos (Name geändert – Red.) ihre Ration Sprudel und Brause in den vierten Stock gebracht: „Mein Rücken ist nicht mehr in der Lage, schwere Dinge nach oben zu tragen, ich mag aber kein Leitungswasser.“ Francesca Bianchi (Name geändert) macht ebenfalls von der Dienstleistung Gebrauch: „Flaschenpost nutze ich aus Faulheit. Ich möchte auf Plastik und Weichmacher verzichten, also bestelle ich Glasflaschen. Weil ich den Rohren im Haus nicht traue, kommt Leitungswasser nicht in Frage.“ Maël Warne (Name geändert) hat Mittagspause: „Wir wollten mal was anderes essen, doch alles war zu weit weg und zeitlich nicht machbar. Also bestellten wir bei Foodora. Alles war einsehbar, wir konnten Jens, unseren Fahrer, tracken und somit unsere Pause planen. Das war praktisch.“
Praktisch ist der Dienst auch für Restaurants: Sie brauchen keinen eigenen Lieferservice und „machen mehr Umsatz mit weniger Steuerabgaben, als wenn sie das Essen im Restaurant servieren würden“, so Vincent Pfeifer, Pressesprecher von foodora.
Dominant gesellen sie sich zu den Hermes- und DHL-Fahrzeugen, kaum eine Radfahrt, bei der einem kein Flaschenpost-Lieferwagen begegnet. Kaum ein Restaurant, vor dem nicht ein Fahrradkurier mit seiner Box auf das bestellte Essen wartet. Das Fahrrad kann in der Stadt das schnellste Transportmittel sein, seit den 80ern verkörpern Fahrradkuriere einen urbanen und freien Lebensstil, längst ist diese Fahrradszene keine Subkultur mehr. In Deutschland gibt es die Roten Radler, die, um 1910 herum, Sendungen auf einem roten Rad ausfuhren und durch ihren rasanten Fahrstil viel Beachtung erhielten, doch auch die Ära ist vorbei. Heute ist es ein Umzugsunternehmen. Ein freies Lebensgefühl – danach sehen viele Fahrradkuriere heute nicht aus.
Trinkgeld als Lösungsmittel
Convenience und Optimierung: Die Getränke bei Flaschenpost kosten nicht mehr als im Getränkemarkt, das bestellte Essen nicht mehr als im Lokal, Amazon unterbietet sowieso alles was unterboten werden kann. Dass die Rechnung dabei nicht aufgehen kann, lässt sich schnell kalkulieren. Von Dienenden wird erwartet, dass sie sich in der ökonomischen Welt nicht wehren.
Können Kurier und Konsument zusammenkommen, ohne die Rollenverteilung des Herrn und sein Knecht? Bianchi hat mit ihren eigenen Protest zu kämpfen: „Es ist irgendwie ein seltsames Bild im Kopf: dass jemand anderes für mich jagen muss. Diese Dienstleistungen entwickeln eine Sogwirkung, es wird so selbstverständlich.“ Immer mit Kleingeld ausgestattet, merkt Bianchi an einem Mittag zu spät, dass sie kein Bargeld da hat. Die Bestellung ist bereits getätigt. Stornieren? Sich nett entschuldigen und rechtfertigen, dass sie sonst immer Trinkgeld gibt? Der Flaschenbote ist schmal und kann jede Kiste nur einzeln nach oben tragen. So muss er vier Mal bis unters Dach laufen. Sie hadert. Nach erfolgreicher Übergabe ist er den Tränen nah: „Ich werde es für die anderen aufschreiben, dass du kein Trinkgeld gibst – wenn man wie du so weit oben wohnt, das ist unmöglich.“ Bianchi wird zum Knecht. Ajnos zahlt für jede Etage einen Euro Trinkgeld und hofft, „dass in Dienstleistungsberufen alle immer Trinkgeld geben, das sollte selbstverständlich sein. Sonst verliert das Konzept jegliche Würde. Zur Sklaverei möchte ich nicht zurück.“
Orry Mittenmayer ist lange für foodora und Deliveroo gefahren und Mitbegründer der politischen Organisation „Liefern am Limit“, die sich für verbesserte Arbeitsbedingungen der KollegInnen von deliveroo, foodora und Lieferando einsetzen: Dazu gehören die Abschaffung der Befristung, ein stärkeres Mitbestimmungsrecht für Betriebsräte und vor allem eine faire Bezahlung. Die sieht in den Stellenausschreibung auf den jeweiligen Portalen tatsächlich gar nicht so unfair aus, Mittenmayer kann mir erklären, warum: „Deliveroo zum Beispiel wirbt schamlos damit, dass man 15 bis 20 Euro die Stunde verdienen kann, dabei haben die einfach Trinkgeld mit eingerechnet. Das ist eine Frechheit, denn das ist in keinster Weise eine zuverlässige und planbare Einnahmequelle. Dennoch ermöglicht Trinkgeld uns Fahrern erst, uns selbst etwas Essen kaufen zu können.“
Wer einen besonderen Dienst beansprucht, soll entsprechend zahlen. Im Umkehrschluss könnte mehr Gehalt ausgezahlt werden. Gut möglich, dass Bestellungen abnehmen würden und Arbeitsplätze gefährdet wären. Ohne einen Versuch, kann aber auch kein Umdenken bewegt werden. Bianchi würde das sofort unterstützen, denn „das kann kein guter Job sein kann, die Flaschenpostboten wirken oft total erschöpft. Generell finde ich, dass alle körperlich sehr anstrengenden Berufe besonders entlohnt werden sollten.“
Vincent Pfeifer von foodora kennt die Schwierigkeiten dabei: „Der deutsche Verbraucher ist nach wie vor preissensibel. Zwar ist er bereit Geld für Essen auszugeben, jedoch nur zu einem bestimmten Preis. Wir wissen, dass unser Geschäft schwer profitabel zu machen ist, suchen aber immer nach den bestmöglichen Investitionen, um weiterhin den optimalen Service bieten zu können.“ Weiter rechnet er vor: „Außer der Liefergebühr erhält foodora pro Bestellung eine Kommission in Höhe von circa 30% vom Restaurantpartner. Diese beinhaltet nicht nur unseren Lieferservice, sondern darüber hinaus auch umfangreiche Online- wie Offline-Marketing-Maßnahmen, eine eigene Fahrerflotte sowie eine digitale, individuell geregelte Abrechnung.“
Die Liefergebühr für eine Bestellung – egal wie weit – beträgt bei foodora nur 1,90 Euro, bei Lieferando ist die Lieferung größtenteils gratis und wie bei deliveroo durch einen Mindestbestellwert ausgeglichen.
„Die Person dahinter wird nicht wahrgenommen“
Ein Sonntag, die Temperaturen herbstlich: Nach einigen Spätdiensten habe ich sturm- und narrenfreiheit, zelebriere Plümo und Captain Kirk in der Horizontalen. Ich habe keine übliche Sonntagsradtour gemacht und überlege, ob ich mir Essen von jemandem auf dem Fahrrad bringen lassen soll. Diese Frage gab es immer mal wieder sonntags. Immer endete sie mit selbstgemachter Klappschmier. Zufälligerweise geht es in der Episode um eine Transporterfehlfunktion, bei der Kirk verdoppelt wird, in ein freundliches und ein böses Individuum. Der kluge Spock erkennt schnell, dass der Captain weder ohne die eine noch die andere Hälfte existieren kann. Gebe ich also meinen Gelüsten nach und werde zum Herr meines Hungers? Ich denke über Mittenmayers Worte nach.
„In der deutschen Gesellschaft herrscht sowieso ein schwieriges Verhältnis zu Dienstleistungen, viele nehmen den Service selbstverständlich in Anspruch und die Person dahinter wird nicht mehr wahrgenommen. Darauf richtet sich auch der Fokus von Bestelldienstleistungen. Das ist alles ganz anonym. Da ist eine Schieflage, ich will das gar nicht verteufeln, aber man muss sich nicht verhalten, es wäre man ein Blaublüter. Dabei müsste man sich die Kuriere einfach als Kellner vorstellen.“
Sulu ist noch immer auf dem Planeten Alfa-177, bei Minus 41 Grad. Er bittet den Captain im Orbit doch bitte eine Kanne Kaffee oder Reiswein an einem Seil runterzulassen.
Es gibt beim Bestellvorgang die Möglichkeit eine Anmerkung zu hinterlassen, meistens ein Hinweis zur Eingangstür oder Etage. Hin und wieder nutzt jemand die Anmerkung auch für besondere Bestellwünsche, wie „Kannst du kurz am Kiosk halten und noch Zigaretten und Bier mitbringen.“ Doch Dienstbote? Mittenmayer ignoriert solche Sonderwünsche, aber er teilt eine weitere Absurdität mit mir:
Ein veganer Falafelladen auf der Neusser Straße, eine Anfahrt von 7 Kilometern, Wartezeit von einer Stunde: „Als ich alles in meiner Kiste hatte und die Zustelladresse bekommen sollte, dachte ich, mein Handy würde hängen. Es wurde immer noch die Adresse des Restaurants anzeigt. Doch es war die richtige Adresse, die Bestellung ist aus dem ersten Stock geordert worden.“
Der Philosoph Hegel macht in seiner Phänomenologie des Geistes deutlich, dass Herr und Knecht voneinander abhängig sind. Die beiden Captains konnten mittlerweile wieder vereint werden, der gespaltene Hund hat den Schock nicht überstanden. Ich entscheide mich für einen Besuch beim Lieblingsgriechen, Kulinarik in Spuckweite sozusagen.
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