Es ist wieder einmal der letzte schöne Tag im Jahr auf der Düsseldorfer Straße in Köln-Mülheim, nicht unweit des Clevischen Rings und dem Wiener Platz. Hinter dem gelben Torschild eröffnet sich jedoch eine wahrhaftige Oase: kopfsteingepflasterter Boden und ein großes, dunkles Backsteinhaus mit Glasfliesen, das prächtig und beinahe unwirklich vor einem steht. Rechts gackern die Hühner. Links ein helles Backsteinhaus mit Bogenfenstern, von Efeu umgarnt, aus denen es gemütlich leuchtet. In diesen Gemäuern wurde einst Korn gebrannt, heute hat die Sozialistische Selbsthilfe Mülheim e.V. hier ihren Sitz, wie es das Schild schlicht und serifenlos andeutet: SSM.
Reentje Streuter lächelt, während er über den Hof führt. Sein Vater Rainer Kippe scheint gerade erst angekommen zu sein, trägt noch die Fahrrad-Warnweste über seinem dicken, groben Seefahrerpullover. Während Streuter selbst nur zu Besuch ist, lebt Kippe bereits seit 1979 auf dem selbstverwalteten Gelände. In der Wohnküche – die das gemütliche Licht und das viele Grün bestätigt und fortführt – sitzen wir an einer Holztafel bei stillem Wasser.
Junge, meist minderjährige Menschen ohne Obhut sind 1969 Antrieb für die Gründung der Sozialpädagogischen Sondermaßnahmen Köln. Dort finden die vernachlässigten und benachteiligten „Fürsorgezöglinge“ neben einem geschützten Raum im besetzten Haus am Salierring auch Struktur und die Chance zu einem selbstständigen und selbstbestimmten Leben.
Weiterer wichtiger Bestandteil der Arbeit ist der Erhalt von bezahlbarem, innenstadtnahem Wohnraum, gegen Stadtsanierung und Gentrifizierung oder wie der damalige SPD-Vorsitzende Günter Herterich es in seinem Plan für die Kölner Innenstadt auf abscheuliche Weise formulierte: „Qualitativer Austausch der Bevölkerung“. Die „Wohnraum-Verteidigungs-Initiative“, später „Wohnraum-Rettungs-Gesellschaft“, konnte an die hundert Häuser besetzen und vor Spekulanten bewahren.
Kippe und seine damalige Lebensgenossin Ranne Michels bekommen am Salierring selbst drei Kinder. Ob politisches und soziales Engagement mit Familiengründung vereinbar ist, kann Kippe bejahen, doch weist er auch auf Schwierigkeiten hin: „Man engagiert sich meistens zwischen 20 und 30, man ist ungebunden. Dann muss man sich die Frage stellen, ob man das weiterhin mit Kindern machen kann. Und wir wollten es ausprobieren und wussten, in der Gemeinschaft geht das. Außerdem sind Kinder wichtig für die Stabilität in einer Gruppe.“
Doch war die Entscheidung in der Gruppe am Salierring umstritten, der zugleich folgende Bruch mit Mitbegründer Lothar Gothe bestärkt den Wegzug nach Mülheim und einem Neuanfang Kippes. Die ehemalige Schnapsbrennerei wird von Kippe und Weggefährt*innen besetzt und kann 1993 einen langfristigen und günstigen Vertrag mit der Stadt Köln abschließen. Man unterscheidet heute zwischen SSK am Salierring sowie in der Liebigstraße und SSM in Mülheim.
„Keine Klassenunterschiede“
Streuter, der mit seiner Mutter erst nach Legalisierung 1994 in die Düsseldorfer Straße gezogen ist, erinnert sich an eine aufregende Kindheit: „Es lebten viele Familien mit kleinen Kindern hier. Dadurch war es spannend, hier aufzuwachsen, weil man mit ganz vielen unterschiedlichen Menschen zusammenlebt. Besonders schön für mich war, dass ich im Grunde genommen am Arbeitsplatz meines Vaters gelebt habe und ihn dadurch viel gesehen habe.“
Nach seinem Jurastudium in Berlin und abgeschlossenem ersten Staatsexamen freut er sich, die Gemeinschaft mit den kommenden Veranstaltungen unterstützen zu können, auch wenn er klar entschieden hat, nicht in die Fußstapfen seines Vaters zu treten: „Ich engagiere mich gerne und will auch weiterhin unterstützend mitwirken. Aber ich möchte etwas eigenes machen – und es ist auch kein Familienunternehmen. Zudem sind es auch sehr große Fußstapfen.“ Dabei hatte Kippe ebenfalls vier Jahre lang Rechtswissenschaften studiert und bietet jeden Montag eine Sozialberatung an, bei der sich Streuter mit viel Zuneigung einbringt und die geteilte Wissensbandbreite dankbar annimmt.
Kippe bestätigt: „Ich habe mit dieser Tätigkeit bis heute keinen Cent verdient, aber ich habe schon tausenden von Menschen helfen können.“ Die Menschen, die in die Düsseldorfer Straße kommen, sind heute längst nicht mehr nur jugendliche Obdachlose. Unabhängig von Alter, gesundheitlichen Beeinträchtigungen, Fähigkeiten und Geschicklichkeit leben und arbeiten etwa dreißig Menschen gleichberechtigt zusammen unter einem Dach. Und das ist für Kippe etwas ganz Wesentliches: „Wir haben alle mal Hilfe bekommen, so haben wir uns verpflichtet, auch dem Nächsten zu helfen. Das schafft eine Gleichheit. Es gibt keine Klassenunterschiede zwischen denen, die helfen und denen, den geholfen wird.“
Einnahmen generiert der selbstverwaltete Betrieb durch das Möbellager sowie der Kleiderkammer, die Bewohner erhalten davon ein wöchentliches Taschengeld. Jeden Mittwoch trifft sich die Gemeinschaft, um Aufgaben zu verteilen, zu koordinieren, zu planen, zu beraten. Dadurch ist die Arbeit – sei es Transport, Gebäudeinstandhaltung oder Kinderbetreuung – nicht nur abwechslungsreich, sondern „ermöglicht einen Zuwachs an Selbstbewusstsein und setzt Energien frei“, so Kippe.
Lebenswertes Mülheim
Es ist dem SSM nicht nur ein großes Anliegen, den von der Gesellschaft als sozial schwach stigmatisierten Menschen ein Gehör zu verleihen und eine Stimme zu geben, sondern sich auch in die Widersprüche des Viertels einzuarbeiten, wie Kippe erläutert: „Wir wollen in der Stadtentwicklung und Stadtplanung mitwirken. Das bedeutet, wir gehen als Bürger hin und haben den Schritt gemacht, dass wir jetzt mitbestimmen, worüber geredet werden soll.“
Damit ist die „Initiative für ein lebenswertes Mülheim“ gemeint, die einen Masterplan mit 60 Punkten erarbeitet hat. Diese sind weiter in sechs Kernpunkte unterteilt: Stärkung des ÖPNV, Ausbau des Radverkehrs, Verbot des Durchgangsverkehrs, Lebensqualität, Wohnen und Klima sowie Ordnung des öffentlichen Raums. Die Forderungen wie „Durchgangsverkehr raus aus Mülheim“ werden anhand von Aktionen durchgeführt, wie die Sperrung des Clevischen Rings im Juli. Dass der Masterplan demnächst mit der Verwaltung und dem Rat diskutiert werden soll, erkennt Kippe als Erfolg an.
Feierlichkeiten
Die Veranstaltungsreihe „3K - Kollektiv. Korrektiv. Kommunikativ.“ umfasst eine reiche Bandbreite verschiedenster Soirées, um das 50-jährige Bestehen Revue passieren zu lassen. Es begann mit der Präsentation des Reprints „Ana & Bela“, Kölns ältestem Underground-Magazin, in der Buchhandlung Walther König, als nächstes folgt der Filmabend „Rheinischer Sozialismus“ (Odeon, 6.11., 18.30 Uhr), bei dem unter anderem ein Dokumentarfilm von Dorothea Neukirchen „die frühen Jahre lebendig werden“ lässt. Eine Bustour (Salierring, 10.11., 12 Uhr) ist so gut wie ausverkauft: Dabei werden Jürgen Becker und Martin Stankowski die Gäste zu den bedeutenden Orten der Sozialistischen Selbsthilfe führen.
An die 500 Plakate hat der Grafiker und Maler Jochen Stankowski in den 70er und 80er Jahren für die SSK wie auch die SSM gestaltet und geklebt. Der Zeichensteller war Mitherausgeber der Initiativenzeitung „Kölner VolksBlatt“ und ist für die Gestaltung der Bücher des Merve Verlags zuständig, die großartige Theorie-Bände herausgeben. Stankowskis Plakate sind im Rahmen der Ausstellung „Bild. Botschaft. Bewegung“ (SSM, 3.11.-5.12.) zu sehen. „Die Ausstellung findet im Möbellager statt und die ausgestellten Exponate agieren mit den Möbeln, nichts wird weggeräumt“, so Streuter.
Rainer Kippe kann auf eine lange, fruchtvolle Zeit zurückschauen und hat mit der Gemeinschaft bewiesen, dass solidarisches Miteinander selbstorganisiert und selbstlos funktionieren kann. Den Renteneintritt hat er bereits seit über zehn Jahren hinter sich, will aber ohnehin noch ganz lange weitermachen: „Ich kann nur jedem ein so breit gefächertes und anregendes Leben wünschen, wie ich es erleben durfte.“ Der fast schon autodidaktische Tausendsassa wird selten müde von der Arbeit. An diesem Abend ist er es ein wenig – eine kürzlich vergangene Erkältung ist schuld. „Und wenn man denkt, oh je, wann soll man das alles machen, kommt ein Lichtblick“, sagt Kippe und schaut zu Streuter.
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