Der Andrang ist groß bei der diesmaligen Lesegruppe im Academyspace. Eine Art von der Akademie der Künste der Welt ins Leben gerufene Selbsthilfegruppe, die seit dem letzten Jahr existiert und die versucht, gegen das System anzulesen. Die Lesegruppe befasst sich seither in ungezwungener Atmosphäre einmal im Monat mit der Perversität kapitalistischer, ausbeutischerer Systeme und stellt sich die Frage: Geht es auch anders? Der Fokus liegt diesmal auf dem Thema „Postkolonialismus“. Begleitend dazu steht das 2013 erschienene Buch des amerikanischen Soziologen Vivek Chibber mit dem Titel „Postcolonial Theory and the Specter of Capital“ im Mittelpunkt, aus welchem pro Sitzung jeweils zwei Kapitel diskutiert werden.
Denn neben den zutiefst grausamen Folgen eines äußerst rassistischen Kolonialismus, die heute ganz vielen Menschen in Form von Sklaverei und perverser Ausbeutung bewusst sind, wird die geistige Strömung des Postkolonialismus hingegen, die sich seit Mitte des letzten Jahrhunderts kritisch mit eben jenem befasst, häufig als etwas vermeintlich Positives gesehen, da sie sich ja vom Imperialismus abgrenze, den einstigen Feudalismus zerstörte. Der in New York lebende und lehrende Soziologe Chibber sowie weitere zeitgenössische Kritiker stellen diese Theorie jedoch mutigerweise in Frage, indem sie auf seine zweischneidige Ambivalenz hinweisen: nämlich insofern, als der Postkolonialismus zwar einerseits die Souveranität der einstigen besetzten Völker wiederherstelle, jedoch gleichzeitig gewisse imperalistische Mechanismen in Politik und Wirtschaft weiterhin forciere – dass der sich als Kritik am Orientalismus und Eurozentrismus verstehende postkoloniale Ansatz diese also in gewisser Weise selber unterstütze. Oder, um es plakativ zu formulieren: Man kann nicht in die Hände klatschen, sich ausruhen und sagen: „Juchhu – mit dem Ende des Kolonialismus sind Unterdrückung, Ausbeutung und Sklaverei weltweit beendet.“
Im Gegenteil. Das Ende des Kolonialismus hat die ekelhafte Dominanz einiger Menschen und Staaten über andere nur an andere Orte verpflanzt, sie unter einem reinen Deckmantel verschoben. So schreibt Chibber – der sich u.a. auch mit wirtschaftlichen Aspekten in asiatischen Räumen befasst, wurde er doch selber in Indien geboren – im Kapitel „Postcolonial Theory and Subaltern Studies“ von einer Transformation des Kapitalismus von seiner ursprünglichen Feudalwirtschaft in Westeuropa hin zu einem nunmehr neu aufblühenden Kapitalismus in der neuen Welt und Asien: „The new industrial masters fanned out into the world, searching for new avenues of profit. In much the same way that capital had established itself in the folds of the feudal economy, it now established beachheads in the New World and Asia.“ (Postcolonial Theory and the Specter of Capital, S. 11) Chibber macht deshalb in seinem Buch auf den teilweise viel zu engen Tunnelblick einer postkolonialen Perspektive aufmerksam, der Kapitalismus nur auf rein westliche Staaten begrenze und dabei einen viel größeren weltweiten Zusammenhang außer Acht lasse.
Sogleich entsteht eine rege Diskussion seitens der Teilnehmer mit der Fragestellung: Woher kommt eigentlich Kapitalismus? Liegt seine Wurzel wirklich im Westen, wie es uns immer eingetrichtert und suggeriert wird? Oder ist das alles ein Konstrukt? Das Schöne an der antikapitalistischen Lesegruppe ist, dass sie sehr persönlich ist und ihre Teilnehmer jedes Mal metafiktional mit einbezieht, sie wortwörtlich an Grenzen, auch ihre eigenen, bringt.
Ein weiteres Problem, das mit einer postkolonialen Betrachtungsweise einhergeht, ist in der kritischen Betrachtung die seither fehlende „absolute Wahrheit“: Mit dem Ende von Zentralismus und Feudalismus sei der Glaube an universelle Werte gestorben. Alles sei stattdessen zerhackstückelt, in tausend Einzelteile zerbröselt worden. Das bannt die Gefahr einer Hegemonie eines Volkes über das andere sowie vor totalitären Regimen, stürzt aber viele in eine Existenz- und Sinnkrise, da sie seitdem stets nach einem tieferen Sinn dahinter suchen, den es nicht (mehr) gibt: An was glauben wir also nun? Was verbindet uns noch mit anderen, wenn überhaupt noch etwas? So sagt Aneta Rostkowska, Initiatorin des politischen Lesezirkels: „Eigentlich benötigen wir neue universale Werte – natürlich in einer anderen, abgemilderten Form.“
Nicht zuletzt ist auch der Post-Kolonialismus zutiefst mit rassistischen und nationalistischen Denkmustern verknüpft, die im 20. Jahrhundert eine Blütezeit erlebten und gerade wieder neu aufkeimen. Mi You, Special Guest des Abends und künstlerisch-wissenschaftliche Mitarbeiterin für Kunst- und Medienwissenschaften an der Kunsthochschule für Medien, wo sie auch studierte, liefert ein konkretes Beispiel aus ihrem Alltag: „Nur weil ich ursprünglich aus Beijing komme, fragen mich Menschen häufig, ob ich ihnen etwas ‚Chinesisches‘ aus meiner Heimat erzählen könne, wollen, dass ich ihnen eine ‚chinesische Geschichte‘ erzähle. Jedes Mal verwundert mich das, denn ich stamme zwar aus Asien, aber ich bin viel herumgekommen und lebe bereits seit einiger Zeit in Deutschland, etc. Warum werde ich also bloß auf meine Wurzeln reduziert?“, fragt Mi You, die sich häufig aus sozio-politischer, transhistorischer sowie transkultureller Perspektive mit Kunst und Medien befasst.
Und so stellen die Teilnehmer schließlich fest: Ja, wir definieren Menschen noch immer anhand ihrer Heimat, reduzieren sie auf ihre Wurzeln. Auch im Jahr 2018. Und so stellt sich jeder Anwesende aus der internationalen Gruppe gemischten Alters diesmal persönlich vor, sich dabei selbstkritisch die Frage stellend: Wer bin ich? Wo komme ich her? Was bedeutet Nationalität überhaupt? „Nationale Identität ist eine Lüge“, schlussfolgert ein Teilnehmer schließlich. „Natürlich haben wir alle unterschiedliche Wurzeln, verschiedene Orte, an denen wir geboren wurden, aber unsere Identität ändert sich im Laufe der Zeit. Wir ändern uns.“
Lesegruppe | 24.4., 29.5., 26.6., 17.7. 19 Uhr | Academyspace, Herwarthstr. 3 | Webseite
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