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„Die Elite ist nicht willens zu teilen“

24. November 2016

Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband über Kinderarmut – Thema 12/16 Kindersegen

choices: Der Dax steigt und die Arbeitslosigkeit ist auf einem Tiefststand. Eigentlich geht es doch allen super. Sind Sie und ihr Verband nicht zu alarmistisch, was Armut in Deutschland angeht?
Ulrich Schneider: Wir referieren ja lediglich das, was als statistische Daten da ist. Und wenn wir uns diese Daten mit unverstelltem Blick anschauen, dann müssen wir feststellen, dass wir zwar Rekordtiefstwerte bei der Arbeitslosigkeit haben. Aber eben auch Rekordhöchststände was die Armut in Deutschland angeht. Das gilt insbesondere für die Armut von Kindern. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Darum sind wir nicht alarmistisch sondern unvoreingenommen.

Was bedeutet Armut für Kinder?

Ulrich Schneider
Foto: Presse

Zur Person: Ulrich Schneider (58) ist seit 1999 Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtverbands. Schneider stammt aus „einfachen Verhältnissen“, studierte in Bonn und Münster Erziehungswissenschaft. Er gilt als einer der profiliertesten Kritiker der Agenda 2010 und ist seit 2016 Mitglied in der Partei „Die Linke“.


Bei der Bedeutung von Armut geht der Streit ja schon los: Für uns besteht Armut nicht erst dann, wenn Menschen Pfandflaschen sammeln müssen, hungern oder keine Kleidung haben. Armut heißt für uns vielmehr: Man kann am ganz normalen Alltag der Gesellschaft nicht mehr teilnehmen, man ist ausgegrenzt. Kinder können an Ausflügen nicht mehr teilnehmen, können keinen Vereinen beitreten, es fehlt Geld für Nachhilfe oder Schulmittel. Diese ganzen subtilen Mechanismen der Ausgrenzung, die machen Armut aus.

Mit dem Bildungs- und Teilhabepaket bekämpft die Bundesregierung doch aber Kinderarmut und will für Chancenungleichheit sorgen.
Das Bildungs- und Teilhabepaket ist im Wesentlichen ein Gutschein von 10 Euro. Nur mit 10 Euro kommen die Kinder nicht weit. Wollen sie in einen Verein, entstehen noch Folgekosten für Trikot oder Schuhe. Und Gitarren- oder Klavierunterricht wird man für 10 Euro vergeblich suchen.

Arbeitsministerin Nahles will sich mit ihrer Politik auf die „wirklich Bedürftigen“ konzentrieren. Bekämpft sie damit nicht einen Teil der Armen, statt das Phänomen Armut?
Wenn sie von „wirklich Bedürftigen“ spricht, dann unterstellt sie den Menschen, die nicht genug Geld haben, dass sie im Grunde keine Not haben und auch nicht bedürftig sind. Hiermit versucht man die Not schön- und kleinzureden. Wer von „nicht wirklich Bedürftigen“ spricht, grenzt diejenigen aus seinem Handlungsspektrum aus, die eigentlich die Hilfe der Arbeitsministerin bräuchten. Das sind auch die Leute, die nicht in existentieller Not sind, die aber tatsächlich nicht mehr teilhaben an dieser Gesellschaft.

Welche Rolle spielt die Elite dieses Landes in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft bei dem Thema? Niemand ist für Kinderarmut, aber es scheint auch so, als wenn niemand wirklich was tut.
Das Problem ist, dass sicherlich jeder zustimmt, man müsse Kinderarmut bekämpfen. Dasselbe gilt, wenn man sagt, man müsse mehr für Pflegebedürftige tun oder für Menschen mit Behinderung. Das Thema bricht aber aus dem Konsens aus, wenn es ums Geld geht. Die sehr Vermögenden in Deutschland, die sogenannte Elite, ist in der Mehrzahl nicht willens zu teilen, nicht willens umzuverteilen, nicht willens höhere Steuern auf sehr hohe Einkommen, Vermögen oder Erbe zu zahlen. Und deshalb ist sie am Ende auch nicht bereit Armut wirksam zu bekämpfen.

Ist Armut ein Ergebnis eines Verteilungskampfes?
In Deutschland, dem fünftreichsten Land der Welt, ist Armut ausschließlich das Ergebnis eines Verteilungskampfes, den die Reichen in den vergangenen 30 Jahren für sich entscheiden konnten. Wir haben heute eine Vermögensverteilung in der zehn Prozent der Reichen etwa Dreiviertel des gesamten Vermögens auf sich vereinen. Eine solche Vermögensverteilung schafft Opfer am unteren Rand mit fast 15 Prozent Armen in Deutschland. Sie schafft aber auch Opfer in der Mitte der Gesellschaft. Die untersten 40 Einkommensprozent haben Schulden oder leben von der Hand in den Mund. Das ist die Realität im Deutschland von 2016.

Kann sich unsere Gesellschaft vor dem Hintergrund der Vergreisung eigentlich leisten, immer weiter Kinder zurückzulassen? Produziert unsere Gesellschaft nicht schon heute die nächste Generation von Abgehängten?
Um es ganz bitter auf den Punkt zu bringen: Die Gesellschaft kann es sich eigentlich nicht leisten 1,5 Millionen Kinder zurückzulassen. Die Gesellschaft ist derzeit brutal und sagt: Am Ende interessiert mich nicht was aus denen wird, solange ich meinen persönlichen Reichtum gesichert habe. Und der Blick in die USA oder nach England zeigt: Da ist in der Tat noch Luft nach oben, was die Ausgrenzung weiter Teile der Gesellschaft angeht. Darum ist es eher eine moralische Frage, ob wir noch zu unserem Sozialstaatsanspruch stehen wollen, oder nicht. Die Veränderung dieser Verhältnisse ist deswegen auch eine Frage des Kampfes. Ich würde da nicht auf Zwangläufigkeiten setzen und sagen: Irgendwann kommen schon alle zur Vernunft; irgendwann wird es eine gerechtere und solidarischere Abgabenpolitik geben. Ich denke, das muss erkämpft werden, und hier muss auch die moralische Komponente immer wieder auf den Tisch kommen.

Aber wieso packen die Mächtigen und Einflussreichen das Thema nicht an? Im Interesse ihrer gut versorgten Nachfahren müssten sie doch ein ganz besonderes Interesse an gesellschaftlichem Frieden haben.
Diese Gefahr ist real. Zuletzt hat das Marcel Fratzscher, der Chef des DIW, in seinem Buch „Verteilungskampf“ so ausgesprochen. Wenn wir mit der aktuellen Vermögensverteilung weitermachen, wenn wir die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinandergehen lassen, produzieren wir letztlich nichts Anderes als Verteilungskämpfe. Bei denen werden am Ende aber immer nur alle verlieren können. Darum ist es vernünftig, Vermögen ganz anders einzusetzen. Da, wo Vermögen nur gehortet wird, muss es in Teilen der freien Verfügbarkeit entzogen werden – Stichwort: Vermögenssteuer. Die Erträge müssten für Investitionen in Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser und Altenheime, in Kultur und Sport genutzt werden. Kurz: Investitionen in ein lebendiges, gutes, kommunales Sozialwesen. Das ist es, was uns die Vernunft gebietet.

Ein Ottmar Schreiner oder ein Norbert Blüm pfiffen regelmäßig auf die offizielle Parteilinie, wenn es um eine solidarische Gesellschaft ging. Fehlen der Politik vielleicht solche Typen?
Wenn wir uns diese Typen anschauen, dann zeichnete die neben ihrem Temperament und ihrem authentischen Auftreten auch die konsequente Ablehnung des Neoliberalismus aus. Und genau da liegt heute die Trennlinie: Predigen wir ein unsolidarisches Gesellschaftsmodell, das Ungleichheit zu seinem festen Bestandteil gemacht hat? Predigen wir ein Modell in dem jeder seines Glückes eigener Schmied sein soll und jeder letztlich für seine Situation alleine verantwortlich ist? Oder stehen wir zu einem Gesellschaftsmodell wo nicht nur Ökonomie, Gewinn und Rendite im Mittelpunkt stehen und in dem die Solidarität – Norbert Blüm würde sagen „Barmherzigkeit“ – eine außerordentlich große Rolle spielt. Das ist die Trennlinie. Wir haben heute eine Sozialpolitik, die in weiten Teilen in neoliberalen Versatzstücken verfangen ist.

Welche Rolle spielen eigentlich die Medien bei dem Thema: Börsennachrichten gibt es rund um die Uhr, Armutsberichte werden auch mal gerne einfach nur kurz vermeldet. Sind Journalisten und Redaktionen zu unkritisch bei dem Thema?
Das weiß ich gar nicht. Medien brauchen permanent Konflikte. Armutsberichte sind immer dann interessant, wenn damit Konflikte mit der Bundesregierung, mit Sozialwissenschaftlern, mit Verbandsfunktionären erzeugt werden können. Das macht es auch so schwierig, von einem Armutsbericht ausgehend, in einer sachlichen Debatte zu landen. Ich würde die Medien aber beim Thema Armut nicht schelten wollen. Dennoch: In vielen Medien werden in den Wirtschaftsredaktionen die ungeprüften Paradigmen des Neoliberalismus relativ unreflektiert nachgebetet: Wettbewerb kann alles und ist immer gut, Renditestreben ist hochvernünftig und Ungleichheit ist fast Gott gegeben in unserer Gesellschaft. Die Axiome des Neoliberalismus‘ kommen relativ ungeprüft in vielen Medien davon. Und das ist schon etwas, das mich erstaunt.


Lesen Sie weitere Artikel 
zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und engels-kultur.de/thema

Aktiv im Thema

www.paritaet-nrw.org | Homepage des Paritätischen Wohlfahrtsverbands NRW
www.kinderschutzbund-koeln.de | Deutscher Kinderschutzbund Ortsverein Köln. Die Lobby für Kinder
www.diakonie-michaelshoven.de | Begleitet und fördert neben Menschen mit Behinderung, Senioren und Menschen in schwierigen Lebenslagen auch Kinder- und Jugendliche

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