Zur Person: Helmut Jungermann (73) war Professor am Institut für Psychologie und Arbeitswissenschaft an der Technischen Universität Berlin. Er hat zahlreiche Arbeiten zur Psychologie der Entscheidung und zu Risikokontroversen veröffentlicht.
choices: Herr Jungermann, seit den Anschlägen in Istanbul, Paris, Brüssel und den Silvesterübergriffen in Köln ist viel von gefühlter Bedrohung die Rede. Was ist das genau?
Helmut Jungermann: Da sind zunächst zwei Begriffe enthalten. Zum einen das Gefühl, und zum anderen die Bedrohung oder das Risiko. Risiko ist ein technischer, statistischer, mathematischer Begriff, der uns was über die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses sagt. Sicherheitsbehörden oder die Polizei operieren mit diesem Begriff, wenn man sie nach einer konkreten Gefahr, beispielsweise auf dem Kölner Domvorplatz, in der Istanbuler Altstadt oder im Zentrum von Brüssel befragt.
Und wie kommt nun das Gefühl ins Spiel?
Zur Person: Helmut Jungermann (73) war Professor am Institut für Psychologie und Arbeitswissenschaft an der Technischen Universität Berlin. Er hat zahlreiche Arbeiten zur Psychologie der Entscheidung und zu Risikokontroversen veröffentlicht.
Im Wesentlichen geht es bei der gefühlten Bedrohung um die Art und Weise der Umstände eines Ereignisses. Menschen, die keine Statistiker sind, berechnen ein Risiko nicht, sondern fühlen es. Wir sprechen von einem intuitiven Risiko. Ein Beispiel: Es mag rein statistisch sehr unwahrscheinlich sein, dass man in Istanbul Opfer eines Terroranschlages wird. Aber die statistische Wahrscheinlichkeit ist nicht entscheidend. Für das Gefühl der Bedrohung spielt viel mehr eine Rolle, dass man sich vorstellt, dass sich ein Selbstmordattentäter in die Luft sprengt, während man auf eine Moschee schaut, dass menschliche Körper oder Körperteile in die Luft fliegen, dass man sich in einem Chaos befindet und völlig hilflos der Situation ausgeliefert ist.
Heißt im Umkehrschluss, dass schlimme Ereignisse mit höherer Wahrscheinlichkeit nicht so sehr von Gefühlen dominiert werden?
Das kann man so nicht sagen. Aber die Vorstellung eines Attentates in einem Flugzeug – Terrorist, Hilflosigkeit, Explosion, Absturz – löst stärkere Gefühle aus als die Vorstellung eines Autounfalls, auch wenn dieser wahrscheinlicher ist als jener. Das ist verständlich. Und danach zu handeln ist nicht unvernünftig, sondern völlig legitim.
Heißt das dann, dass Bilder stärker sind als statistische Zahlen, wenn es darum geht, Risiken einzuschätzen?
Gefühle werden sehr stark durch Bilder geprägt. Zahlen sind nicht annähernd so stark. Bilder bestimmen sogar weitgehend, was man sich zu Zahlen denkt. Ein Bild sagt bekanntlich mehr als tausend Worte. Das wird gerne mit dem Beispiel des Kindes illustriert, das in den Brunnen gefallen ist. Wenn das passiert und Fernsehen und BILD darüber berichten, dann haben alle großes Mitleid und die Anteilnahme ist sehr groß. In der gleichen Zeit gibt es aber zahllose andere Kinder in bedrohlichen Situationen, für die sich aber niemand interessiert, weil es keine Bilder von ihnen gibt.
Immer weniger Menschen reisen nach Ägypten, Tunesien oder jetzt auch in die Türkei, weil sie Angst vor Terror haben. Mit dem öffentlichen Verkehr, der in Brüssel Ziel eines Anschlags wurde, fahren wir dennoch jeden Tag. Wie ist das zu erklären?
Die Vorstellung, Opfer in einem fremden Land zu werden, bringt Gefühle von Ausgeliefertsein und Hilflosigkeit mit sich. Man kennt sich dort nicht aus, weiß nicht, an wen man sich wenden kann, ob und wie einem geholfen wird. Diese oft durchaus berechtigten Vorstellungen bestimmen stark das Gefühl der Bedrohung. Jedenfalls bei Touristen, die das Reiseland kaum kennen. Von den Reiseunternehmen wissen wir, dass z.B. erfahrene Türkeibesucher ihre Urlaubspläne selten ändern. Der öffentliche Verkehr hingegen gehört zum Alltag. Hier operieren Menschen dann wieder eher mit einer Wahrscheinlichkeit, die sich aus unserer Erfahrung speist. Und man kennt sich aus, weiß, was man im Fall eines Falles tun kann oder muss. Und schließlich: Auf einen Urlaub in der Türkei kann man problemlos verzichten, auf die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel im Alltag dagegen oft nicht oder jedenfalls nicht lange. Der Nutzen überwiegt das Risiko. Die Bilder vom tragischen Bahnunglück in Bayern vor ein paar Wochen halten uns nicht davon ab, weiterhin den öffentlichen Verkehr zu nutzen.
Ist die Risikobewertung im Alltag also eine andere als beispielsweise bei einer Reise?
Grundsätzlich nicht, aber die einzelnen Facetten der Situation werden bei der Beurteilung des Risikos unterschiedlich gewichtet. Wir wissen aus der psychologischen Risikoforschung, welche Facetten vor allem eine Rolle spielen: Die Schrecklichkeit der Folgen eines Ereignisses (z.B. Selbstmordattentat), die Unerforschtheit des Risikos (z.B. Gentechnik) und die Unkontrollierbarkeit der Situation (z.B. in einem fremden Land). Und natürlich die Möglichkeit, dass etwas passiert. Aber nicht eine Wahrscheinlichkeit im statistischen Sinne, denn solche Daten gibt es in den Fällen, über die wir sprechen, nur selten. Es ist die diffuse Unsicherheit, die gar nicht quantifizierbar ist. Man kann nur sagen: Ja, es kann etwas passieren. Diese und weitere Facetten werden bei der Beurteilung der Situation in Istanbul anders gewichtet als bei der Beurteilung der Situation auf dem Kölner Domplatz.
Wie hängt das alles mit der diffusen Angst zusammen, von der gerade allenthalben zu hören ist?
Diese Angst speist sich zum einen aus dem Gefühl, das mit den möglichen Umständen und Folgen eines terroristischen Anschlages verbunden ist, zum andern aus der Unsicherheit und Hilflosigkeit gegenüber einem solchen Anschlag.
Welche Rolle spielt Kontrollverlust?
Das Gefühl, Kontrolle zu verlieren, ist einer der wichtigsten Angstfaktoren. Alle Lebensrisiken, bei denen Menschen meinen, sie hätten eine gewisse Kontrolle über die Situation, werden im Hinblick auf eine Bedrohung weniger stark gewichtet als diejenigen, in denen sie keine Kontrolle haben oder Gefahr laufen, sie zu verlieren. Deshalb fühlen sich viele Leute im Auto sicherer als im Flugzeug. Die Menschen fühlen sich im Flugzeug ausgeliefert, weil sie keinen Einfluss haben, nichts tun können. Im Auto hat hingegen jeder das Gefühl, eingreifen zu können und das Risiko beeinflussen zu können. Dabei wird vergessen, dass man über die vielen anderen Verkehrsteilnehmer keine Kontrolle hat.
Wird die sogenannte Flüchtlingskrise ebenfalls als Kontrollverlust wahrgenommen?
Sowohl die Bilder aus den Medien, als auch die, die im politischen Raum präsentiert werden, spielen mit möglichen Szenarien, die Menschen Angst machen. Nach den Vorkommnissen in Köln gab es in Berlin eine Geschichte von einer vermeintlichen Vergewaltigung eines Mädchens durch Flüchtlinge. Das war Stimmungsmache gegen Einwanderer. Es gibt aber auch eine berechtigte Unsicherheit der Menschen, weil man in der Tat ja nicht weiß, welche Folgen diese starke Einwanderung in Deutschland und Europa haben wird.
Nach den Kölner Vorfällen haben viele Leute den kleinen Waffenschein beantragt. Ist das ein Versuch wieder Kontrolle zurückzugewinnen?
Das ist wohl bei vielen so. Sie sehen Kleinwaffen wie Pfefferspray als eine Möglichkeit, Kontrolle über eine als chaotisch empfundene Situation zu gewinnen. Ich bezweifle, dass sich die Käufer solcher Waffen wirklich weniger bedroht fühlen.
Und die Wahl populistischer Parteien wie der AfD? Auch ein Kampf gegen den Kontrollverlust?
Das ist ein interessanter Gedanke. Um die Situation wieder in den Griff zu kriegen, haben viele Menschen sicher das Gefühl, über die Wahl einer populistischen Partei Kontrolle zurückgewinnen zu können. Aber man muss sehen, dass es solche Parteien sind, die mit Bildern und Parolen der Angst immer neue Nahrung geben. Angst ist ihr größtes politisches Kapital. Sie versprechen einerseits Sicherheit und Ordnung, profitieren aber vom Gegenteil.
Zum Abschluss noch die Frage an den Risikoforscher: Wie geht man am besten mit Risiken um?
Stellen Sie sich vor, in welche Situation sie geraten können, was passieren kann und wie sehr Sie das beunruhigt. Prüfen Sie die Informationen daraufhin, wie wahrscheinlich es ist, dass es zu einer solchen Situation kommt, und entscheiden Sie dann nach der „Intuition“, die sich aus diesen Überlegungen ergeben hat. Und ganz wichtig: Lassen Sie sich nicht „Irrationalität“ vorwerfen, wenn Sie sich nicht allein an der Statistik orientieren!
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