Um 1610/11 sitzt der alte William Shakespeare in Stratford, macht Geld- und Grundstücksgeschäfte und schreibt sein letztes Stück „Der Sturm“. Eine sogenannte Romanze, in dem ein alter Mann namens Prospero auf einer Insel mit seiner Tochter Miranda lebt, umgeben von dem Luftgeist Ariel und dem „wilden Sklaven“ Caliban. Mit seinen magischen Kräften lässt der Alte das Schiff seines verfeindeten Bruders Antonio und dessen Hofgesellschaft stranden. Selbstporträt, Kolonialstück oder Machtfantasie – „Der Sturm“ ist eines der meistinterpretierten Stücke Shakespeares. An der Studiobühne bringen nun Regisseur Tim Mrosek und Dramaturg Martin Wiesenhöfer den Klassiker auf die Bühne.
choices: Herr Mrosek, Herr Wiesenhöfer, ein alter Mann hockt verbittert auf einer Insel und zaubert vor sich hin. Wer ist dieser Prospero eigentlich?
Tim Mrosek: In seiner Zeit als Herrscher in Mailand hat Prospero die Regierungsgeschäfte vernachlässigt, um sich den dunklen Künsten zu widmen. Er wurde vertrieben und landete auf der Insel, auf der das Stück spielt. Er ist ein Strippenzieher, Manipulator und Zauberer. Prospero ist Machtmensch in dem Sinn, dass er Menschen manipuliert und letztlich auch unterdrückt. Im weitesten Sinne ist er mehr Prinzip als konkrete Figur. Es ist vermutlich nicht entscheidend, ob jemand über drei Personen oder drei Milliarden herrscht.
Martin Wiesenhöfer: Man denkt zunächst, Prosperos Motiv sei die Rache. Es ist aber eher die Lust, die Strippen in der Hand zu halten. Prospero ist ein humanistischer Diktator. Er rechtfertigt seinen Plan mit dem „greater good“, also dem öffentlichen Wohl.
Was macht seine Macht aus?
TM: Im Stück ist es die Fähigkeit zur Zauberei. Die eigentliche Frage ist allerdings, ob er überhaupt zaubern kann. Ist da wirklich Magie im Spiel? Zaubern bedeutet, im entscheidenden Moment abzulenken von dem, was wirklich passiert. Das bekommt Prospero gut hin. Er hat Mittel zur Verfügung, sich die Figur des Ariel Untertan zu machen. Das ist eine Fähigkeit von Machtpolitikern prinzipiell.
MW: Der Ausführende ist immer Ariel. Prospero schickt ihn los, um Aufträge zu erledigen. Er hat Ariel aus seiner Gefangenschaft befreit und droht ihm, ihn jederzeit wieder festsetzen zu können.
TM: Das Problem ist: Ariel ist zwar eine präsente Figur, aber sehr eindimensional. Man erfährt kaum, was sie denkt und fühlt. Das mag mit der Perspektive und Projektionsfläche des „edlen Wilden“ zu tun haben. Trotzdem bleibt die Frage, warum Ariel nicht aufbegehrt. Warum er sich von den Drohgebärden Prosperos beeindrucken lässt. Und warum Prospero sich seiner Macht über Ariel und Caliban so sicher ist.
Ist der „Sturm“ eine Geschichte über Kolonialismus?
TM: Die dementsprechende Lesart lautet: Prospero kommt auf eine Insel, wie es viele Menschen in der Weltgeschichte getan haben. Er schafft es auf diplomatische Art und später durch Unterdrückung, Caliban zu versklaven und die Herrschaft an sich zu reißen. In einem zweiten Schritt befreit er Ariel aus seiner Gefangenschaft. Zugleich etabliert er unter den Ureinwohnern Ariel und Caliban eine Zweiklassengesellschaft, die für sein Ränkespiel hilfreich ist.
MW: Caliban erzählt mit leuchtenden Augen, wie Prospero ihm Sprechen beigebracht hat. Dafür hat er Prospero im Gegenzug die Geheimnisse der Insel gezeigt. Das war also zunächst eine harmonische Beziehung zwischen den beiden. Danach allerdings stellte sich die Machtfrage anders. So läuft Kolonialismus und so laufen auch viele andere Beziehungen.
TM: Ich halte diese kolonialistische Lesart allerdings für auserzählt. Interessanter ist, darüber nachzudenken, wie Prospero Herrscher über die Insel wurde. Nicht im Sinne, dass ein Weißer People of colour unterdrückt, sondern im Sinne der Machtstrukturen an sich.
Wo siedeln Sie das Stück an?
TM: Es spielt in einem schwarzen Raum. Man muss den Handlungsort der Insel als ambivalenten Ort sehr ernst nehmen. Er liegt irgendwo im Mittelmeer, ist andererseits von den Bahamas inspiriert. Es geht um einen Ort, der fremd ist, der verwirrt und Angst macht. Und der die Figuren Dinge tun lässt, die sie anderswo nicht tun würden. Die Insel ist ein archetypisches Bild für eine albtraumhafte Situation.
Inwieweit wird die Liebe von Miranda und Ferdinand von Prosperos Macht berührt?
TM: Viel interessanter als die Liebe zwischen Miranda und Ferdinand ist für uns die Liebesgeschichte zwischen Caliban und Miranda. Die beiden sind miteinander aufgewachsen. Sie haben sich ineinander verliebt und opponieren zunächst auch gegen Prospero.
MW: Wenn man das genau liest, erkennt man, dass Miranda immer wieder gegen Prospero aufbegehrt. Das ist zwar kein pubertärer Trotz, aber sie hält schon dagegen.
TM: Dann allerdings kommt es zum kulturellen Clash zwischen Miranda und Caliban und die beiden finden nicht mehr zueinander. Mirandas Liebe zu Ferdinand wird dann durch Prospero quasi hergestellt. Miranda sieht in Ferdinand so eine Art Gott, sie hat schließlich außer ihrem alten Vater vorher noch nie einen Mann gesehen. Diese Geschichte ist voller Klischees. Es ist schwierig, überhaupt von einer Liebesgeschichte zu sprechen.
Gibt es ein Gegenmodell zu Prosperos Herrschaft?
MW: Es gibt GonzalosUtopie, bei der man sich allerdings fragt, ob das wirklich funktionieren kann. Im Bundestag würde man fragen: „Und wer soll das eigentlich finanzieren?“ Als Utopie bleibt sie ein Denkmodell.
TM: Das Mordkomplott von Antonio und Sebastian entspringt dagegen reiner Machtgier. Das Verbrechen scheint in den beiden schon angelegt, es mangelte ihnen bisher nur an einem Anlass.
MW: Das Stück wirkt sehr konstruiert. Jede Figur hat ihre eigene Farbe, ihre eigene Agenda, verfolgt ihr eigenes, sehr individuelles Ziel. Alle kümmern sich eigentlich zunächst mal um sich.
Und das eher komische Mordkomplott von Caliban, Stephano und Trunculo?
MW: Stephano und Trinculo sind eigentlich Clowns, die Caliban derart einlullen, dass er ihnen alles glaubt. Er hält sie schließlich für Götter und folgt ihnen in allerbestem Glauben.
TM: Die Caliban-Geschichte ist tieftraurig, weil da der eurozentrische Blick auf indigene Völker durchdekliniert wird. Caliban wird als Idiot dargestellt und man fiebert mit ihm als unterdrückter Figur regelrecht mit.
Macht ist also letztlich nicht auszuhebeln?
TM: Das Stück ist für mich zu einem Albtraum geworden, in dem ich nur noch die Angst der Figuren lese. Woher rührt diese Angst? Wie wird diese Angst produziert? Was kann man dagegen machen? Das Thema Angst ist in den unterschiedlichsten Ausprägungen vorhanden und stellt einen Bezug zur Gegenwart her. Wir wollen allerdings nicht eine einfache Analogie herstellen. Der Abend soll assoziativ beleuchten, wie Machmissbrauch, Angst und Gewalt zusammenhängen.
„Der Sturm“ | R: Tim Mrosek | 16. - 20.1. 20 Uhr | Studiobühne Köln | 0221 470 45 13
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