„Ein Kind tut alles, um die Liebe der Eltern zu bekommen“
24. September 2015
Andrea Bleikamps Stück „Mein eigen Fleisch und Blut“ behandelt das Vater-Sohn-Verhältnis – Premiere 10/15
Es sind die Spannungen zwischen den Generationen, die die Regisseurin Andrea Bleikamp immer wieder beschäftigen. Vor sechs Jahren hat sie sich mit dem Mythos Medea beschäftigt. Danach brachte sie ein Mehr-Generationen-Projekt auf die Bühnen und lotete Altersdifferenzen aus. In „Mein eigen Fleisch und Blut“ steht das Verhältnis von Vater und Sohn im Mittelpunkt. Zusammen mit den Darstellern Rick Kam und Heinrich Baumgartner nimmt sie sich das literarisch vielfach verarbeitete Thema am Beispiel Franz Kafkas vor.
choices: Frau Bleikamp, in Ihrer neuen Inszenierung geht es um Vater und Sohn. Sie greifen ausgerechnet auf Kafkas Erzählung „Elf Söhne“ zurück, in der ein Vater an seinen Sprösslingen nur rumnörgelt. Soll man sich daran ein Beispiel nehmen? Andrea Bleikamp: Wir greifen nicht nur auf Kafkas „Elf Söhne“, sondern auch auf seinen „Brief an den Vater“ oder Passagen aus der Erzählung „Das Urteil“ zurück. Wir wechseln immer wieder die Perspektive. Mir ist wichtig, dass man nicht nur erkennt, wie der Vater auf den Sohn sieht, sondern auch wie der Sohn den Vater einschätzt. Mich hat besonders das Spannungsfeld zwischen Liebe und Hass, Abhängigkeit und freiheitlichem Gebundensein in der Beziehung zwischen Vater und Sohn interessiert. In „Elf Söhne“ findet der Vater an jedem seiner Söhne ein schlechtes Haar; keiner ist so, wie er ihn sich wünscht.
Kafka hatte zeitlebens Probleme mit seinem eigenen Vater. Inwieweit lassen sich seine Texte trotzdem als Fallstudien lesen?
Andrea Bleikamp
Foto: Adrian Ballosch
Andrea Bleikamp begann
während des Studiums der Germanistik, Soziologie und Philosophie
ihre Regieassistenz an den Bühnen der Stadt Köln bei Günter
Krämer. In der Freien Szene arbeitet sie seit 1998 mit dem
wehrtheater zusammen, dessen Leitung sie 2009 übernahm. 2010/11
realisierte sie das Mehrgenerationenprojekt
„Altersfragen“. Sie gründete die „BabyBühne“.
So beschädigt das Verhältnis zwischen Kafka und seinem Vater war, es ist auch symptomatisch. Als Kind, besonders als Sohn möchte man vom Vater geliebt werden. Diese Abhängigkeit ist da und vereint uns, weil wir – so einfach das klingt – alle einen Vater haben. In Kafkas Verhältnis zu seinem Vater schwingt auch eine große Sehnsucht mit, was anders sein soll. Darin verbergen sich Wünsche, Vorstellungen oder Projektionen: Wie stelle ich mir meinen Vater vor? Was erwarte ich von ihm? Wie könnte ein idealer Sohn aussehen? Projektionen können allerdings auch eine Belastung sein, weil die damit verknüpfte Erwartung meist nur in der Vorstellung existiert. Bei Gesprächen mit ihren Vätern, haben die Darsteller Heinrich Baumgartner und Rick Kam festgestellt, dass viele vermeintliche Erwartungen, die sie lange lähmten, nur Einbildungen waren.
Manchmal sind diese Erwartungen aber auch ganz konkret. Dem Vater in Kafkas „Elf Söhne“ fehlt an jedem irgendetwas. Es ist der Wunsch, dass der Sohn etwas erreicht, was man selbst nicht geschafft hat. Bei uns versucht der Vater in einer Szene, den Sohn nach einer Traumvorstellung zu modellieren. Doch wie sieht der perfekte Sohn eigentlich aus? Bei Kafka betrifft das auch die Äußerlichkeiten. Bei der Besetzung habe ich mich für zwei sehr konträre Darsteller entschieden. Auf der einen Seite Rick Kam, der ätherisch, schön, grazil, sehr leicht und feminin daherkommt; auf der anderen Seite Heinrich Baumgartner, der kernig und kantig ist. Beide bilden starke Gegenpole, trotzdem tauschen sie immer wieder die Rollen oder treten als konkurrierende Brüder auf.
Der Vater bei Kafka liefert genaue Beschreibungen seiner Söhne. Wie realistisch sind diese Beschreibungen und was sagen sie über den Vater? Ich glaube, dass der Vater damit nur Facetten seiner selbst beschreibt. Er hat keine elf Söhne, wahrscheinlich nicht einmal einen. Der Vater beschreibt letztlich nur die Facetten seiner eigenen Persönlichkeit. Und welche Facette er auch auswählt, sie genügt nicht.
Wie ist es umgekehrt im „Brief an den Vater“. Was erwartet der Sohn? Kafka spricht darin über den körperlichen Umgang, den er sich mit seinem Vater gewünscht hätte. Er fordert eine Körperlichkeit ein, die man heute in jeder Zeitschrift wiederfindet, in der es um den sogenannten „neuen Mann“ und den Umgang mit seinen Kindern geht. Verblüffend ist, dass Kafka seinen Vater anklagt, dass er ihm das nicht geben konnte und dies Unvermögen dann auch noch als normal dargestellt hat. Ich halte das für ungeheuer modern in der damaligen Zeit, in der es sicherlich ungewöhnlich gewesen wäre, wenn der Vater sich mit dem Sohn abends auf Sofa gesetzt und gekuschelt hätte.
Hört der Schmerz, den Kafka beschreibt, eigentlich jemals auf? Man kann sich dem sicherlich für ein paar Jahre entziehen. Spätestens wenn man dann ein eigenes Kind bekommt, kehrt der Schmerz wieder zurück. Wenn der Vater nicht vorhanden war oder es nicht gut lief, bleibt da eine Leerstelle. Auch bei Patchworkfamilien übrigens, in denen das Kind mehrere Bezugspersonen haben kann. Du hast keine Wahl. Wir haben uns dem Thema Vater und Sohn, bei dem man fast automatisch in einem christlichen Kontext landet, auch über das Ritual des Abendessens genähert. Das Abendbrot ist immer noch die Mahlzeit, bei der die Familie zusammenkommt. In den meisten Familien ist es immer noch so, dass der Vater erst abends nach Hause kommt. Die Figur des Vaters verbindet sich so mit dem Ritual des Abendbrotessens.
Wie verändert sich das Verhältnis zwischen Vater und Sohn mit fortschreitendem Alter? Ich wage zu behaupten, dass es in den ersten zwanzig Jahren um Erwartungshaltungen und um Abgrenzung geht. Ab 40 beginnt man, sich selbst zu beobachten und Dinge zu entdecken, die einem vom eigenen Vater bekannt vorkommen, gerade auch in Äußerlichkeiten. Wenn man mit 20 in den Spiegel schaut, sieht man nicht unbedingt seinen Vater, mit 40 sucht man nach Ähnlichkeiten in der Körperhaltung, in Formulierungen. Teilweise ist das schön, teilweise möchte man das nicht. Man bekommt als Sohn allmählich auch einen anderen Blickwinkel auf den Vater, versteht ihn besser, behandelt ihn nachsichtiger. Und wenn man Glück hat, wird der Ältere auch toleranter, hat man Pech, wird er seniler.
In Kafkas Erzählung „Elf Söhne“ kann keiner der Söhne es dem Vater recht machen. Muss man seine Kinder lieben? Nein, das glaube ich nicht. Als Kind würdest du zwar alles tun, um die Liebe der Eltern zu bekommen. Ich glaube allerdings leider nicht, dass Kinder ein Recht darauf haben, geliebt zu werden. Es gibt Eltern die keine emotionale Bindung zu ihren Kindern haben. Ich halte das für defizitär, auch wenn das wahrscheinlich häufiger vorkommt, als man denkt. Viele Menschen bekommen Kinder aus rein egoistischen Gründen und es gibt viele Väter, die nach einer Trennung mit der Regelung des Teilzeitvaters gar nicht so unglücklich sind. Das heißt aber nicht, dass sie ihre Kinder nicht lieben.
Liegt das Problem nicht auch im Elend des Vergleichens zwischen den Kindern? Das ist sicher ein großes Problem. Auch wenn man sich das eingestehen kann, das Kind wird es spüren. Wir versuchen die Situation in einer Brüderkonstellation zu erfassen, worin um die Liebe des Vater konkurriert wird. Dabei spielen wir auch mit dem Klischee der Kontraste zwischen asiatischer und europäischer Kultur.
„Mein eigen Fleisch und Blut“ (Teil 1, Väter und Söhne) | R: Andrea Bleikamp | Do 24.(P), Sa 26.9. 20.30 Uhr, So 27.9. 19 Uhr, 7.-10.10. 20 Uhr | Orangerie | 0221952 27 08
Interview: Hans-Christoph Zimmermann
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