Da ist ein Zimmer in der Stadt, für mich, ein Raum, klein und mittendrin, die Flugzeuge starten in der Nähe, beginnen damit morgens um sechs, das erspart mir den Wecker. Manchmal zieht es mich nicht dorthin, ich drücke zweifelnde Gedanken weg und fahre trotzdem, wo Straßen in Umweltzonen geteilt werden. Das gibt es bei mir nicht, ich bin ein Landei, eine Pomeranze, die Zöpfe fehlen seit der Pubertät, ein äußeres Erkennungszeichen gibt es nicht.
Die Stadt ist laut und voll und wird beherrscht von grau, auf dem Land ist alles grün, man erholt sich dort, lebt beschaulich und bedauert den armen gehetzten Städter, der vor der Tür keine frische Luft holen kann, der vielleicht noch nicht mal einen Baum auf seiner Straße sieht. Die Kinder werden vor die Stadt gebracht, um Kühe und Ziegen und Schafe zu sehen. Jahre später. Es ist alles anders. Frische Luft sollte man in Dosen verkaufen.
Mit dem Auto fahre ich in die Stadt, in ihr bewege ich mich öffentlich, mit der Bahn, wenn ich Glück habe, ist sie nicht überfüllt und ich kann normal atmen. Stehe ich gequetscht, halte ich oft die Luft an oder atme aus, wenn mir jemand entgegenkommt, um die Gerüche der Menschen nicht aufnehmen zu müssen, um die Menschen nicht einatmen zu müssen. Wir sind körperlich so nah in der Stadt und doch so weit weg. Ich laufe grundsätzlich auf Asphalt oder Beton. Jeder Schritt wird abrupt durch die Härte des Bodens gebremst, es federt nichts unter mir. Einmal hatte ich Pech, musste eine Stunde lang auf eine Bahn warten, um in die Mitte der Stadt zu gelangen, ein Konzert zu hören und zu sehen, dafür fahre ich in die Stadt, bei mir gibt es diese kulturellen Dinge kaum. Da läuft der Fernseher. Kontrolliere ich abends die Fenster der Nachbarn, sehe ich überall die ins Leben eingebetteten Kisten laufen. Bei mir bleibt es dunkel. In Büchern finde ich die interessanten Geschichten, die, die etwas erzählen. Bücher kaufe ich in der Stadt. Kommt keine Bahn, schaut man sich gleich irritiert an. In der Stadt geht immer was. In der Stadt gibt es keine Alternative. Fahrrad fährt man nicht, um sich fortzubewegen, Auto auch nicht, besser nicht, man weiß nach dem Ankommen nicht wohin damit. Als die Türen der Bahn sich öffnen und mich rauslassen, verschlingt mich gleich der Weihnachtsmarkt, ein Elektronikfachmarkt eröffnet gerade auf drei Etagen, an der Rolltreppe muss ich anstehen, um weiter zu kommen, fremde Schultern reiben sich an meinen Armen, man haucht mir Pfefferminze in mein Gesicht, ich verliere die Orientierung, meine Nase öffnet sich, wo bin ich, wie bin ich hierher gekommen, noch eine Rolltreppe bis ins Erdgeschoss, eine bekannte Hand zieht mich heraus, sie kennt sich aus. In einer Buchhandlung umklammere ich einen Kaffee, stütze mich auf Büchern ab. Fast wie zu Hause. Ruhe.
Es ist alles so anders geworden. Verlasse ich das Zimmer in der Stadt, erwartet mich die Ruhe nicht, so wie es früher war. Das Land rüstet auf. Supermärkte ziehen in die Orte, Drogerien und Discounter, sie buhlen um das wenige Geld, das hier draußen verdient wird, Arbeitsplätze gibt es wenige, viele fahren in die Städte, um zu arbeiten und wohnen draußen, weil es billiger ist. Die Zeit dazwischen reicht zum Grübeln, wo wir letztendlich hingehören. Jeder Ort konkurriert mit dem nächsten, dieses Wachstum kann nur in einer Verpuffung enden. Kleine Orte werden vollgestopft, man kann sich bald in ihnen nicht mehr bewegen. Der Horizont wird verbaut, die große Stadt wird imitiert, das neue Land ist die kopierte Stadt, die Bürger sollen gehalten und neue angezogen werden, damit sie bleiben. Ich lebe dazwischen. Die Menschen hier draußen sind anders, sie ändern sich nicht dadurch, dass sie in ein Stadtschema gepresst werden. Sie sprechen Dialekt. Sie sprechen über andere Themen. Sie demonstrieren nicht, lehnen sich selten auf, die Bankenkrise existiert in der Zeitung, sie haben die Zelte auf Europaletten der occupy-Bewegung in der Stadt nicht gesehen. Sie sprechen über Menschen, die sie schon ihr ganzes Leben lang kennen. Wenn man hier geboren wurde, ist man geblieben, beobachtet sich ein ganzes Leben, jeder Fremde ist gleich suspekt, wird nicht reingelassen. Abstand bleibt immer.
Aber wo spielt sich das Leben ab, wo ist das richtige? In Büchern steht der Mond über Manhattan, spielt die Trilogie in New York und die Stadt ist aus Glas, oder sie ist die Stadt der Engel.
Bei Wim Wenders sagt Edda in „Alice in den Städten“: „Ich weiß auch nicht, wie man leben soll. Mir hat’s auch keiner gezeigt.“
Ich weiß auch nicht, wie man leben soll. Das Land in den Wurzeln, die Stadt im Kopf, das Zimmer wartet auf mich mit offener Tür. Wie soll man leben, wo soll man es tun, wo bleiben? Ein Blick vom Land in die Stadt. Man bleibt dort, wo jemand wartet.
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