Henry David Thoreau ist ein Klassiker. 1845 zog der frühere Lehrer und Privatsekretär von Ralph Waldo Emerson in eine selbstgebaute Hütte im Wald und versorgte sich zwei Jahre lang selbst. Es war ein Rückzug in die Natur, eine Besinnung auf das Wesentliche und eine Beschränkung des Konsums, wie sie seit 2000 Jahren nahezu jeder fundamentalen Zivilisationskritik eigen sind. Danach schrieb er acht Jahre an seiner Ökobibel, die kurz nach Erscheinen ins Pantheon der amerikanischen Literatur einzog. Die preisgekrönte Regisseurin Elsa Weiland inszeniert „Walden“ jetzt mit Amelie Barth als Monolog an der Studiobühne.
++ Dieser Beitrag erschien in ähnlicher Form der Aprilausgabe, die Vorstellungen wurden wegen des Virus verschoben, Darstellerin ist nun Amelie Barth statt Fee Zweipfennig, die neuen Termine mit begrenzten Plätzen und Hygienemaßnahmen beginnen am 30.10. ++ Die Redaktion ++
choices: Frau Weiland, die Studiobühne hat wegen des Corona-Virus gerade den Spielbetrieb eingestellt. Wie geht es mit Ihrer Inszenierung von „Walden“ weiter?
Elsa Weiland: Wir proben, solange die Chance besteht, dass unsere Premiere stattfinden kann. Die Studiobühne hat bis 19.4. geschlossen, wir wollen am 22.4. rauskommen. Wir haben aber sowieso noch einen zweiten Vorstellungs-Block im Herbst geplant, dahin können wir die Premiere im Notfall verlegen.
Was ist „Walden“ überhaupt: Tagebuch, Manifest, Ratgeber oder Gesellschaftsanalyse?
Das Spannende ist, dass „Walden“ keine lineare Geschichte erzählt oder Entwicklung hat und dass der Erzähler Henry David Thoreau im Fokus steht. Es ist eine spannende Mischung aus sehr genauen Naturbeobachtungen, aus Berichten über den Tagesablauf der Erzähler-Figur, aus philosophischen Überlegungen und messerscharfer Gesellschaftskritik. Diese Aspekte sind auch wichtig für unsere Arbeit. Es ist nicht nur die Beschreibung eines Aussteigerlebens, sondern birgt eine wichtige gesellschaftliche Dimension: Jemand verlässt die Gesellschaft, weil er kein Teil mehr von ihr sein will, und begibt sich auf die Suche nach einer anderen Form des Lebens.
Flüchtet Thoreau nicht eher aus einer Verweigerungshaltung, als aus dem Impuls etwas umzugestalten?
Vielleicht sollte man unterscheiden zwischen Verweigerung und Protest. Thoreau hat sich nicht nur zurückgezogen. Er hat sich aus Protest gegen die Sklaverei in den USA geweigert, Steuern zu zahlen und kam deshalb ins Gefängnis. Das war ein Akt zivilen Ungehorsams. Ich lese „Walden“ eher so, dass im Verlassen der Gesellschaft bereits ein Protest und eine Verantwortung liegt. Die Abgeschiedenheit in der Natur schärft die Wahrnehmung und eröffnet Perspektiven. Man kann sich auf die Suche machen nach einer anderen Lebensweise. Der Abstand hilft, die Missstände der Gesellschaft zu verstehen. Dahinter steckt die sehr präzise Annahme, dass Veränderungen im Kopf und im Handeln jedes Einzelnen beginnen. Wie ich mein Leben führe, auch im Privaten, hat immer eine politische Dimension. Das ist auch die Frage, die sich unsere Figur auf der Bühne stellt: Inwiefern reicht es, sich rauszuziehen oder braucht es am Ende doch ein gemeinsames Handeln?
Thoreau hat 3 Kilometer von dem Örtchen Concord entfernt in einer Hütte gelebt und ist täglich nach Concord spaziert, um mit Bekannten zu reden. Wie ernst ist sein Experiment überhaupt zu nehmen?
Es war kein absoluter Rückzug, das macht diese Figur auch nahbar. Menschen sind gesellschaftliche Wesen, die den Kontakt zu anderen brauchen. Nichtsdestotrotz hat Thoreau versucht, sich als Mensch in die Natur einzugliedern. Bei uns geht es weniger um Thoreaus individuelle Geschichte, sondern darum, dass eine Figur in die Natur zieht und der Fokus auf diesem Bezug zur Natur liegt.
Wie würden Sie denn Ihren persönlichen Bezug zur Natur beschreiben?
Meine Beziehung zur Natur macht gerade einen Wandel durch, der sehr eng mit dem Stück zusammenhängt. Ich bin extrem gern in der Natur, sie ist aber für mich eher eine Ausflucht vor dem lauten, anstrengenden, fordernden Leben in der Stadt. Thoreaus Buch macht mir klar, dass die Natur nicht uns braucht, sondern umgekehrt wir die Natur. Deshalb müssen wir unser Verhältnis zur Natur verändern.
Thoreau redet immer wieder vom wirklichen Leben, das er sucht. Was ist darunter denn zu verstehen?
Das wirkliche Leben orientiert sich zunächst an unseren basalen Grundbedürfnissen. Es geht darum, dass man sich von äußeren Zwängen lossagt, dass man ohne Ablenkungen das pure Leben mit all seinen Sinnen wiederentdeckt.
Was wäre ein Schritt, um diesem basalen Leben etwas näherzukommen?
Es bleibt ein Spagat zwischen Gesellschaft und Natur. Einerseits geht es um unsere Grundbedürfnisse, andererseits um die Frage: Wie kann ich der Natur anders begegnen? Wie kann ich einen Dialog mit der Natur führen? Kann ich die Natur als einen Spielpartner sehen, um die Sinne und den Blick für die Realität zu schärfen? Da kommt dann auch unser Drang, vieles besitzen zu wollen, ins Spiel. Thoreau möchte nach seinen Worten das Leben so einfach führen, wie die Natur selbst.
Ist diese Sehnsucht nach dem Einfachen und den Grundbedürfnissen nicht ein typisches Problem von uns gestressten Großstadtmenschen?
Das ist es sicherlich. Das Spannende an Thoreau ist aber, dass er die Antworten darauf in der Beziehung von Mensch und Natur sucht. Wir wollen dieses Experiment 170 Jahre später auf der Theaterbühne für die heutige Zeit durchspielen. Heute ist es sicherlich viel radikaler, sich aus der Welt zurückzuziehen.
Haben Sie denn einen solchen Verzicht in der Vorbereitung mal durchgespielt?
In der radikalen Form wie Thoreau nicht. Im Mai letzten Jahres war ich bei Helsinki in einer Hütte in einem Nationalpark mit eingeschränktem Strom, ohne fließend Wasser, ohne Toilette. Man lernt sehr schnell, wieviel Wasser man z.B. zum Zähneputzen braucht und geht viel sparsamer mit den Ressourcen um. Alles wird unmittelbarer.
Thoreaus Experiment lässt sich ja heute nicht wirklich realistisch umsetzen. Wo können wir denn beginnen?
Bei Thoreau geht es neudeutsch um eine Work-life-Balance, also der Verzicht auf Luxusgüter, die für ihn auch Kaffee und Zucker einschlossen. Er sagt, ich versuche so wenig wie möglich zu arbeiten, um dem Besitz- und Konsumdrang zu entkommen, um mehr Zeit für mich zu haben, die Welt um mich herum wahrzunehmen und mich gesellschaftlich zu engagieren. Heute könnte das bedeuten, sich den Klimaprotesten anzuschließen, sich Zeit zu nehmen, eine fundierte Meinung zu bilden und sich zu fragen, woher denn eigentlich unser Essen oder die Dinge kommen, die uns umgeben. Grundsätzlich geht es darum, unsere Lebensweise zu hinterfragen und konkrete Versuche zu unternehmen, sie zu verändern.
Walden | R: Elsa Weiland | 30.10.(P) - 3.11. je 20 Uhr | Studiobühne | info@orangerie-theater.de
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