Leviathan (2012)
Frankreich 2012, Laufzeit: 83 Min., FSK 0
Regie: Lucien Castaing-Taylor, Verena Paravel
Intensiver Hochseefischertrip
Überbordend
„Leviathan“ von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel
Der Dokumentarfilm ist mittlerweile nicht nur bloß im Kino angekommen. Das Genre zeigt sich dort vielmehr zunehmend wandlungsfähig im Hinblick auf die klassischen TV-Konzepte, in denen Inhalte kategorisch über Off-Kommentar gepaart mit Monolog, Dialog, Archivmaterial und nachgestellten Spielszenen transportiert werden. Auch wenn diese Formen gleichfalls auf der Leinwand funktionieren, solange die Inhalte 90 Minuten zu tragen verstehen, reißt das Kino die Formen auf – so wie es das Kino mit geradezu allen Genres tut. Und das ist ja nicht zuletzt das Aufregende an der Sache. Dabei verschwimmen gern auch mal die Genregrenzen. Vor allem der Spielfilm bedient sich gern dokumentarischer Elemente, um authentischer zu wirken, insbesondere der Horrorfilm, der umso lieber gruselt, wenn es wahrhaftig wirkt („The Blair Witch Project“, „Paranormal Activity“, „Chronicle“). Gleiches funktioniert auch als satirische Komödie, wenn teilimprovisiert mit Wackelkamera inszeniert und kokettiert wird („I’m still here“, „Fraktus“). Und der Dokumentarfilm selbst? Der wirft nun „Leviathan“ auf die Leinwand – und geht, scheinbar allen Spielarten und Einflüssen zum Trotz, zurück auf Anfang.
Wüsste man es nicht besser, könnte „Leviathan“ ein Relikt sein aus den Gründerzeiten des Kinos. Natürlich verfügte man vor hundert Jahren nicht über Digitalkameras und der Film war noch stumm und schwarzweiß. Die Inszenierung dieses Dokuments aber ist so spartanisch, so nackt und auf den Moment fokussiert, kennt keinen Kommentar noch Zeitlupe noch Zeitraffer - und wirkt eben dadurch so jungfräulich. Worum es geht? Um den Alltag an Bord eines Industrie-Fischereiboots. Das Konzept: Eine szenische Abfolge intensiver Einstellungen, die von der Arbeit auf und unter Deck zeugen. Das Ergebnis: Eine berauschende Erfahrung mit hypnotischer Sogwirkung.
Hinter dem vermeintlich profanen Ansatz steht eine Theorie: „Sensory Ethnography“, ein Seitenarm der visuellen Anthropologie, die Regisseur Lucien Castaing-Taylor in Harvard lehrt. Ein intellektueller Ansatz, der in kompromissloser inszenatorischer Reduktion mündet. In einem sinnlichen audiovisuellen Trip, kreiert aus minutenlangen Einstellungen, mal atemberaubend unstet, mal meditativ entschleunigt. Was erscheinen mag wie ein assoziativ arrangiertes Dokument einer Nacht auf Hochsee, ist das Ergebnis einer einjährigen Reise, bei der die Castaing-Taylor und seine Co-Regisseurin Véréna Paravel Seemänner auf ihrem Industrie-Fischereiboot begleiteten. Der Film und seine Macher unterwerfen sich dabei komplett ihrer Materie. Das Ergebnis ist im wahrsten Sinne des Wortes eindrucksvoll und dürfte das Genre nachhaltig beeinflussen. Wer sich als Zuschauer diesem Werk unterwirft, wird belohnt, sei aber zugleich gewarnt vor der ungeschönten Darstellung der Fischverarbeitung und davor, im Kinosessel seekrank zu werden.
Und das Genre, der Dokumentarfilm? Inwiefern entspricht „Leviathan“ noch dem Gedanken, Fremdes zu vermitteln oder Bekanntes zu vertiefen? Er entspricht ihm zu hundert Prozent, ohne über seinen Gegenstand auch nur ein Wort zu verlieren. Faszinierend. Berauschend. Überbordend.
Verband der Filmkritik von Los Angeles, Experimentalfilmpreis 2012
(Hartmut Ernst)
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