Tödliche Versprechen
Großbritannien, Kanada 2007, Laufzeit: 100 Min., FSK 16
Regie: David Cronenberg
Darsteller: Viggo Mortensen, Naomi Watts, Vincent Cassel, Armin Mueller-Stahl, Sinéad Cusak, Donald Sumpter, Cristina Catalina, Georgo Danka, Olegar Fedoro
In einem Londoner Krankenhaus stirbt eine junge Frau bei der Geburt ihres Kindes. Die Identität der Frau ist nicht bekannt, daher droht dem Baby eine Zukunft im Waisenhaus. Die Hebamme Anna setzt daher alles daran, die Verwandtschaft zu finden.
Er ist der Meister des körperlichen Schreckens. Und das nicht auf einer Ebene, wie man sie von der aktuellen Horror-Welle kennt, wo der Körper durch Gewalteinwirkung versehrt wird, sondern auf einer fantastischen. Bei David Cronenberg erfährt der Körper einen krankhaften Wandel, ausgelöst oder einhergehend mit psychischen Defekten: Physische und psychische Mutationen sind seine Themen. Eine faszinierend erschreckende (und vice versa) Welt zeigt Cronenberg in seinem uvre. Aber all das lässt er mit seinen letzten beiden Filmen weitgehend hinter sich und tritt ein in die Wirklichkeit.
In dieser Welt
In seinem letzten Film „A History Of Violence“ und jetzt in „Tödliche Versprechen“ setzt sich Cronenberg mehr denn je mit der Wirklichkeit auseinander und verweist nicht nur symbolisch auf sie, sondern ganz konkret. Die Handlungen sind in der Wirklichkeit geerdet, ohne dadurch an Schrecken einzubüßen. Denn der lauert ganz real hinter der nächsten Häuserecke. „Spider“ von 2002 spielte wie Cronenbergs aktueller Film zwar auch schon in London, war aber weniger gelungen, weil er ein Klischee von London vorführte, das zudem ein antiquiertes war. Um so wohltuender ist es zu merken, dass er mit „Tödliche Versprechen“ in der Gegenwart und der Wirklichkeit ankommt.
London, Gegenwart: Ein Mann wird in einem Friseurladen brutal ermordet, zeitgleich stolpert ein hochschwangeres, 14jähriges russisches Mädchen mit Blutungen in ein Hospital. Es stirbt bei der Geburt seines Kindes. Drastik ist wohl der treffende Ausdruck, um die Bilder der Eingangsszenen zu beschreiben. Anna (Naomi Watts) ist die Hebamme bei der dramatischen Geburt, während der die junge Mutter stirbt. Da deren Identität unbekannt ist, hieße das, dass das Kind in ein Heim müsste. Anna, Tochter einer Engländerin und eines bereits verstorbenen Russen, findet schnell eine Spur, die zu einem russischen Restaurant führt. Die Gestalten, die sie dort trifft, sind sehr ambivalent: Semyon (Armin Müller-Stahl), der Besitzer des Restaurants, ist ein netter alter Mann, der Anna bei der Übersetzung des Tagebuchs der gestorbenen Mutter des Babys helfen will. Dessen Sohn Kirill (Vincent Cassel) hingegen ist ein jähzorniger, pöbelnder Heißsporn. Kirill steht der als Fahrer angestellte Nikolai (Viggo Mortensen aus „A History Of Violence“) zur Seite, der eiskalt wirkt, zwielichtig und unberechenbar. Aber auch er ist wie Semyon reserviert freundlich zu Anna. Dass alle drei auch ganz anders können, erfährt der Zuschauer erst nach und nach, wenn er tief in ein Netz aus dunklen Machenschaften, familiären Konflikten und Intrigen gezogen wird. Cronenberg führt uns in die Parallelgesellschaft der russischen Mafia ein, die in London hinter unscheinbarer Fassade die Fäden für Raub, Mord, Drogen- und Mädchenhandel zieht.
Atmosphäre der Unsicherheit
Körperlichkeit war immer schon Cronenbergs Spezialität. Man denke nur an „Die Fliege“, „Die Unzertrennlichen“ oder „Crash“. Mit „Tödliche Versprechen“ verlagert er seine Fähigkeit, Körperlichkeit vor allem als Deformation darzustellen, auf die pure Präsenz seiner Figuren. Das sich ständig verschiebende Machtdreieck zwischen Semyon, Kirill und Nikolai lotet Cronenberg mit Hilfe ihrer Körper systematisch aus – aber meist jenseits körperlicher Brutalität. Vor allem auf die besondere Physiognomie von Viggo Mortensen und Vincent Cassel kann er sich dabei stützen. Die wenigen Male, in denen Cronenberg dann wirklich explizit Gewalt zeigt, ist er entweder dem komödiantischen Splatter zugeneigt – wenn eine Leiche entsorgt werden muss, oder – viel schlimmer – er verbreitet eine unfassbare körperliche Präsenz wie in einer schockierenden Szene, in der der splitternackte Nikolai in einen Hinterhalt gelockt wird.
Über die Figur der die Normalität repräsentierenden Anna lässt Cronenberg den Zuschauer in die dunkle Wirklichkeit der russischen Mafia eintauchen. Die großartigen Darsteller dieser ambivalenten Figuren, allen voran Viggo Mortensen und Vincent Cassel, tragen enorm zu der Qualität des Films bei. Aber natürlich ist es vor allem Cronenbergs Fähigkeit, ohne plump Effekte auszubeuten oder eine vordergründige Ästhetik bemühen zu müssen eine düstere Atmosphäre der Unsicherheit zu schaffen, die "Tödliche Versprechen" zu einem beeindruckenden und gesellschaftlich bedeutsamen Werk macht.
(Christian Meyer)
Gute Zeiten
Wie lang darf ein Film sein? – Vorspann 02/25
Bittersüße Dystopie
„Ein schöner Ort“ in der Aula der KHM – Foyer 01/25
Zeit-Fragen
Symposium der dokumentarfilminitiative im Filmhaus – Foyer 01/25
Maria
Start: 6.2.2025
Mutiny in Heaven – Nick Caves frühe Jahre
Start: 6.2.2025
Pfau – Bin ich echt?
Start: 20.2.2025
Heldin
Start: 27.2.2025
Like A Complete Unknown
Start: 27.2.2025
Bolero
Start: 6.3.2025
Das kostbarste aller Güter
Start: 6.3.2025
Flow
Start: 6.3.2025
Mickey 17
Start: 6.3.2025
Köln 75
Start: 13.3.2025
Das Licht
Start: 20.3.2025
The End
Start: 27.3.2025
Quiet Life
Start: 24.4.2025
Volveréis – Ein fast klassischer Liebesfilm
Start: 1.5.2025
Kino als Empathie-Maschine
Warum wir Kino in Zukunft mehr brauchen denn je – Vorspann 01/25
Stark durch Solidarität
„Billige Hände“ im Filmhaus – Foyer 12/24
Übers Ankommen in Deutschland
„Zwischen Sein und Nichtsein“ von Leocadie Uyisenga – Film 12/24
Toleranz zum Jahresende
Mit Kino zu mehr Empathie finden – Vorspann 12/24
Zermürbte Gesellschaft
choices preview zu „Critical Zone“ im Odeon – Foyer 11/24
„Mir wurden die Risiken des Hebammenberufs bewusst“
Katja Baumgarten über ihren Film „Gretas Geburt“ – Foyer 11/24
Die ganze Palette Kino
9. European Arthouse Cinema Day – Festival 11/24
Nach Leerstellen suchen
„Riefenstahl“ im Weisshauskino – Foyer 11/24