Die Sonne scheint, zum ersten Mal seit langem. Im Cinenova geht es an diesem milden Abend um ein ernstes Thema. Und doch: Der Saal ist voll. Zur Deutschlandpremiere des Dokumentarfilms „Taste the Waste“ ist auch Regisseur Valentin Thurn mit seinem Film-Team anwesend. Aus einer zunächst vagen Idee entstand ein Projekt, für das mehrere Kontinente bereist wurden und das Wellen schlägt – ganz im Sinne seiner Macher, die vor allem aufklären und aufrütteln wollen: „Taste the Waste“ befasst sich mit den Schattenseiten unseres Konsums, oder genauer: Mit unserem Müll. In großem Stil werden weltweit Lebensmittel verschwendet. Schätzungen sprechen davon, dass 25 bis 50% aller genießbaren Lebensmittel auf dem Müll enden. Kühlschränke seien so bloß das „Vorzimmer zum Abfalleimer“, bedauert einer der Interviewpartner im Film. Dabei beschränkt sich das Phänomen nicht nur auf Privathaushalte, gerade auch die Industrie ist in großem – und bis vor Kurzem in Deutschland weitgehend unbekanntem – Maße betroffen. Der Film bringt eindringlich näher: Jeder Einzelne von uns ist auf seine Weise daran beteiligt. So geht es in „Taste the Waste“ entgegen dem Namen mitnichten nur um Müll, sondern zwangsläufig auch um den Klimawandel, um Erziehung, Tierschutz, soziale Gerechtigkeit, Politik und Globalisierung.
Texttafeln unterfüttern die Film-Interviews mit erschreckenden Fakten: Das Essen, das in Europa weggeworfen wird, könnte alle Hungernden der Welt gleich zweimal ernähren. Immer wieder findet der Film schaurig-schöne Bilder, oft wecken sie Assoziationen an überbordende Vanitas-Gemälde. Die Kamera lässt sich Zeit, die Details einzufangen, auch mal ganz ohne Protagonisten und Voice-Over: eine Müllpresse, aus der es in dickflüssigen Rinnsalen heraustropft; meterhohe Berge an Brotlaibern, die in einer riesigen Lagerhalle angehäuft werden; scharenweise tote Fische, die schmatzend in Container gleiten. So geht kollektives Raunen und Kopfschütteln durch den Kinosaal, hier manifestieren sich Fassungslosigkeit und Wut über das Ausmaß der Verschwendung – und vermutlich auch über den eigenen Anteil daran. Immer wieder gibt es aber auch Lacher über den Wahnwitz. Da ist zum Beispiel das elektronische Sortiersystem, das anhand von Farbskalen den exakten Rot-Ton von Tomaten bestimmt und Norm-Abweichler aussortiert. Glücklicherweise nehmen viele der Protagonisten die Situation noch mit einigem Galgenhumor. Wichtig ist vor allem aber, dass „Taste the Waste“ auch Lösungen und erfolgreiche Vorreiter anführt. Müll kann zu Biogas werden, überschüssiges Brot zu Heizpellets. Andere Lebensmittel versorgen gemeinnützige Tafeln. In erster Linie will die Dokumentation anregen, umzudenken und das eigene Verhalten zu ändern. Denn „das ist ein System, in dem wir alle stecken“, sagt Thurn. Und schließt sich selbst auch mit ein.
Der Regisseur und sein Team werden begeistert auf der großen Bühne des Cinenovas empfangen, der Film hat Eindruck hinterlassen. Und er erklärt, dass selbst ihm anfangs nicht klar war, welche Dimension das Projekt annehmen würde. „Das sind Größenordnungen, von denen anscheinend niemand in Deutschland wusste!“ Während seiner Recherchen konnte ihm niemand Auskunft geben, keine Behörde, keine Einrichtung, und schon gar keine Zahlen nennen. „Normalerweise geht man als Journalist irgendwo hin und holt sich Informationen ein“, erklärt er. Bei „Taste the Waste“ war das schlichtweg nicht möglich. Doch kann der Regisseur an diesem Abend schon von ersten Erfolgen berichten, er zeigt sich erstaunt über die Wirkung des Projekts: „Eigentlich ist es für einen Filmemacher ja so: Man unterhält und man informiert. Aber gesellschaftlich etwas bewegen?“ Inzwischen hat das NRW-Verbraucherschutzministerium angekündigt, erstmals Studien zu veranlassen, das Problem zu erforschen und Lösungsvorschläge zu entwickeln. Es scheint zu stimmen, was die Film-Homepage verheißt: Taste the Waste ist kein Film, es ist eine Bewegung.
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